Название: Die Stimme
Автор: Bernhard Richter
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783894878207
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Um die Akustik der Hohlräume berechnen zu können, die den Stimmlippen nachgeschaltet sind, wird vorgeschlagen, das in Abbildung 51 modellhaft gezeigte Röhrensystem so zu verstehen, dass es – ähnlich dem Röhrensystem einer Posaune – in seiner Länge variabel ist (Abb. 52 a/b). Terminologisch leitet sich von diesem Vorschlag der Begriff »Ansatzrohr« ab. In der physiologischen Klangformung beim Menschen sind die Begrenzungen der Resonanzräume jedoch überhaupt nicht starr wie in einem Rohr, sondern äußerst beweglich. Bei der Artikulation von Klang zu Klang ändert sich jedoch nicht nur die Länge des Systems – wie bei einer Posaune – sondern auch, je nach Vokal und Gesangsstil, der Querschnitt erheblich, wie anhand der Abbildungen 49–54 nachvollziehbar ist. Am treffendsten ließen sich die akustisch wirksamen Räume oberhalb der Stimmlippen mit dem Begriff »Klangformungsräume mit variablen Begrenzungen« beschreiben. Ein solcher Begriff wäre jedoch nicht praktikabel.
Abb. 51: Der Vokaltrakt als Röhrensystem; 3D-Rekonstruktion von MRT-Aufnahmen
Im Zusammenhang mit der Klangformung besonders interessante Muskeln sind die infrahyoidalen Muskeln inklusive dem M. sternohyoideus und dem M. omohyoideus. Letzterer zieht vom Zungenbein nach unten und hinten Richtung Rücken und dort bis zum Schulterblatt (s. Abb. 25 a/b, S. 44). Wenn der Muskel aktiviert wird, kommt es zu einer Tieferstellung des Kehlkopfes. Man kann diese Muskelaktivität – auch das von außen am Hals sichtbare Spiel der Muskeln – sowie die mit ihr einhergehende Tiefstellung des Kehlkopfes besonders bei Frauen bei der Phonation gut beobachten, und die daraus resultierende tiefe Sprechstimme gut hören. Als prägnante Beispiele können Nachrichtenmoderatorinnen im Fernsehen wie Petra Gerster, Caren Miosga, Gundula Gause u. a. herangezogen werden. Die Tief- und Hochstellung des Larynx bewirken eine Verlängerung oder Verkürzung des Vokaltraktes und haben damit direkten Einfluss auf die Klangformung. Dieser Vorgang der Längenvariation wird auch zur Erzeugung der voix sombrée eingesetzt (vgl. Kap. 5, S. 112, u. Kap. 6, S. 141). Auch der Mechanismus des »Deckens« beim Registerübergang wird durch eine Tieferstellung des Kehlkopfes begünstigt (vgl. Kap. 6, S. 141). Weitere Muskeln wie M. sternohyoideus (vgl. Abb. 25 a/b, S. 44) und M. thyrohyoideus sowie die Mundbodenmuskulatur (vgl. Abb. 48, S. 58) können ebenfalls die Stellung des Kehlkopfes und damit die Klangeigenschaften der Resonanzräume modifizieren (Abb. 53 a/b). Es gibt in der Musik kein vergleichbares Instrument, welches sowohl den Durchmesser als auch die Länge der Resonanzräume so rasch und umfassend variieren kann.
Abb. 52 a/b: Veränderungen der Vokaltraktlänge eines Tenors bei Phonation a) im Falsett, b) in der Bühnenstimme des Tenors; MRT-Aufnahmen
Abb. 53 a/b: Variation der Kehlkopfhöhe bei Phonation: a) tiefgestellt, b) hochgestellt; MRT-Aufnahmen
Abb. 54 a/b/c: Abhängigkeit der Zungenstellung bei unterschiedlichen Vokalen und verschiedenen Gesangsstilen:
a) Klassik [a], b) Klassik [i], c) Musical [i]; MRT-Aufnahmen
Der Begriff Vokaltrakt erscheint im Bedeutungszusammenhang besser gewählt, da in ihm durch sehr unterschiedliche Stellungen der Zunge tatsächlich die Vokale geformt werden wie in Abbildung 74, S. 83, zu sehen ist. Aus den Abbildungen 54 a/b/c, S. 60, wird auch deutlich, dass es Unterschiede in der Vokalformung bei den verschiedenen Gesangsstilen gibt. Jedoch greift auch dieser Begriff etwas zu kurz, da die Klangformung nicht nur die Vokale betrifft, sondern auch die stimmliche Tragfähigkeit entscheidend von den Verhältnissen dieser Räume abhängt.
Der Begriff Resonanzräume ist ebenfalls missverständlich, da das eigentlich schwingende Element die Luftsäule ist und nicht die Wände des Vokaltraktes. Die Rolle dieser schleimhautausgekleideten Räume kann man nicht mit dem echten Mitschwingen des Holzes bei einer Geige vergleichen. Zum vollständigen Verständnis der resonatorischen Eigenschaften dieses Systems sind weitere Forschungsarbeiten notwendig. Seine grundlegenden akustischen Eigenschaften wie die Formanten (Vokal- und Sängerformanten) werden nach aktuellem Wissenstand in Kapitel 4, S. 82 ff. ausführlich beschrieben.
Resonanzräume
Der im Kehlkopf gebildete Primärklang wird hinsichtlich seines Klangcharakters und seiner Tragfähigkeit entscheidend durch die resonatorischen Eigenschaften der Räume oberhalb der Stimmlippenebene geformt. Die an der Klangformung beteiligten Räume werden synonym als Vokaltrakt, Ansatzrohr oder Artikulations- und Resonanzräume bezeichnet. Sie werden anatomisch im Wesentlichen durch den Larynxeingang, den Pharynxschlauch, die Mundhöhle mit der Zunge und dem Gaumensegel sowie die Lippen begrenzt. In der physiologischen Klangformung sind die Begrenzungen der Resonanzräume beim Menschen durch die enorme Variabilität der Stellung der Zunge, des Gaumensegels, der Lippen, des Kehldeckels und der Position des Kehlkopfes äußerst flexibel.
1 Im Gesangsstudium des Autors wurde diese Haltung von der Gesangsprofessorin Beata Heuer-Christen durch die bildliche Vorstellung »Breit den Rücken wie ein Rind« evoziert.
3. Methoden zur Darstellung, Analyse und Beurteilung von Stimmen
Bernhard Richter
Es gibt unterschiedliche Sinnes-Kanäle, mit denen wir die Qualitäten der Stimme wahrnehmen und beurteilen können: den Hör-, Seh- und Tastsinn sowie das Fühlen und Spüren von Körpersensationen (die sog. Propriozeption). Darüber hinaus können wir mit unterschiedlichen technischen Messinstrumenten vielfältige Merkmale der Stimme aufzeichnen und analysieren.
Dem »Instrument Stimme« kann man sich außerdem aus ganz unterschiedlichen Perspektiven nähern, die unterschiedliche Grundvoraussetzungen bedingen:
• Produziert man die Stimme selbst?
• Hört man einer fremden Stimme zu?
• Wird »just for fun« gehört?
• Wird eine bewertende Perspektive eingenommen?
Eine wertende Perspektive kann wiederum von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen, je nachdem, ob die Beurteilung eines Schülers durch einen Lehrer, die eines Künstlers durch einen Kritiker, oder diejenige eines Stimmpatienten durch einen Stimmarzt bzw. -therapeuten erfolgt. Im Idealfall ziehen alle Beteiligten die gleichen Kriterien zur Beurteilung heran und kommen zu einer einheitlichen Wertung – dies ist jedoch leider nicht immer der Fall.
Meist wird die primäre Beurteilung einer Stimme hörend, also mit den Ohren, erfolgen. Menschen, die nicht selbst stimmlich geschult sind, haben zumeist einen wertfreien Zugang zu Stimmen. Mit zunehmender Schulung des analytischen Gehörs wird der Höreindruck jedoch – fast zwangsläufig – bewertend. Bei Sängern und Schauspielern müssen in der Hörbeurteilung СКАЧАТЬ