Название: Die Stimme
Автор: Bernhard Richter
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783894878207
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Abb. 42 a-f: Schematische Darstellung der dreidimensionalen Stimmlippenbewegung
Wie in Abbildung 42 a–f dargestellt, verläuft die Schwingung der Stimmlippen tatsächlich nicht in einer horizontalen Ebene, sondern die verschlossenen, phonationsbereiten Stimmlippen weisen in der dreidimensionalen Darstellung eine vertikale Kontaktfläche auf (42 a). Die Luftsäule, die von der Lunge über die Luftröhre bei der Stimmgebung von unten auf die geschlossenen Stimmlippen trifft (42 b), baut den subglottischen Druck auf, der ab einem bestimmten, für die Tonhöhe und die Lautstärke des jeweiligen Tones charakteristischen Wert die Verschlusskräfte der Stimmlippen überwindet. Dieser Vorgang erfolgt dergestalt, dass zuerst die der Luftröhre am nächsten liegenden Anteile der Stimmlippe auseinandergedrängt werden und zuletzt die dem Vokaltrakt nächsten Schichten, so dass sich erst in diesem Moment die Stimmlippen so öffnen, dass der Luftstrom die Glottis passieren kann (42 c). Der erneute Schluss der Stimmlippen erfolgt unmittelbar nach dem Auseinanderdrängen der obersten Schicht in der Weise, dass sich zuerst die der Luftröhre am nächsten liegenden Anteile der Stimmlippe von unten (42 d) nach oben (42 e) wieder verschließen (42 f). Der Luftdurchtritt durch die Glottis erfolgt demzufolge in sehr kleinen Portionen. Die Häufigkeit dieses Luftdurchtritts pro Sekunde bestimmt die Frequenz des Grundtones, der in Hertz gemessen wird. Die Zeit, während der die Stimmlippe offen ist, bezeichnet man als Offenphase, der prozentuale Anteil, den sie in einem Schwingungszyklus im Vergleich zur Gesamtzeit des Zyklus geöffnet ist, wird als Offenquotient (OQ) bezeichnet (Abb. 43, S. 53).
Abb. 43: Zyklus einer Stimmlippenschwingung (aus Echternach 2010)
Der rasche Verschluss der Stimmlippen wird durch die aerodynamischen Kräfte gemäß dem Bernoulli‘schen Gesetz begünstigt. Dieses wurde bereits im 18. Jahrhundert von Daniel Bernoulli (1700–1782) aufgestellt. Es besagt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Querschnitt eines Rohres und dem in ihm herrschenden Druck. Dabei hängt der Druck, der aufgrund der Strömung zusätzlich horizontal zur Strömungsrichtung wirkt, von der Geschwindigkeit der Strömung ab. Die Stimmlippen stellen für den aus der Luftröhre kommenden Luftstrom ein Hindernis dar. Wie Abbildung 44 zeigt, benötigt der Luftstrom in den äußeren Bereichen durch den längeren Weg eine höhere Geschwindigkeit als innen. Diese Differenz der Geschwindigkeiten führt, da die Summe von Druck und Geschwindigkeit nach Bernoulli (bei konstanter Dichte) konstant ist, zu einem Unterdruck, der senkrecht zur Strömungsrichtung der Luft wirkt. Dieser Unterdruck wiederum bewirkt, dass sich die Stimmlippen quasi »ansaugen« (Abb. 42 d/e, S. 53). Es ist außerdem der elastische Gewebsdruck, der die Stimmlippen aneinanderdrückt, wenn der Luftdruck zwischen ihnen nachlässt. Man spricht deswegen von der Myoelastischaerodynamischen Theorie der Stimmlippenschwingung (vgl. Kap. 1, S. 23).
Abb. 44: Schematische Darstellung des Bernoulli-Effekts
Man kann dieses aerodynamische Prinzip in einem einfachen Modell selbst nachvollziehen. Wenn man zwei aneinanderliegende Blätter vor dem Mund annähert und dann Luft durch die Blätter bläst, weichen diese nicht, wie man es zunächst erwarten würde, auseinander, sondern legen sich im Gegenteil, je stärker man bläst, umso fester aneinander (Abb. 45). Dem Gesetz von Bernoulli gehorchend nähern sie sich nach jedem Durchtritt einer kleinen Luftportion sofort wieder gegenseitig an. Zusammenfassend kann man also sagen, dass die elastischen Rückstellkräfte der Stimmlippen den Schwingungsablauf der Stimmlippen aufgrund des Bernoulli’schen Effekts bewirken.
In der sängerischen Terminologie wird der Versuch unternommen, die Ausprägung der oben beschriebenen Feinschwingung der Stimmlippe mit verschiedenen Begriffen zu charakterisieren. Bei der Randschwingung soll nur der freie Rand des Epithels – also nur das cover – schwingen, bei der Vollschwingung zusätzlich Band und Muskeln – also auch der body. Diese Begrifflichkeit entspricht nicht den physiologischen Gegebenheiten, da sie im stroboskopischen Bild bei professionellen Sängern so nicht eindeutig als Entweder-oder nachweisbar ist. Hier schwingen – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung in Abhängigkeit von der Tonhöhe sowie der Lautstärke – immer cover und body gleichzeitig. Zudem ist der Begriff »Randschwingung« unscharf vom Begriff »Randstimme« abgegrenzt. Unter Randschwingung versteht man die »schwappende« Bewegung des Epithels, welche die Geschwindigkeit des Stimmlippenschlusses mitbestimmt. Ist diese »schnell«, so entsteht ein reiches Obertonspektrum. In der Stroboskopie ist diese Bewegung des Epithels in der sogenannten Randkantenverschiebung sichtbar (vgl. Abb. 63, S. 71).
Abb. 45: Bernoulli-Effekt: Versuch mit zwei Blättern
Mit Randstimme wird eine leise Stimmgebung bezeichnet, die z. B. auf dem klingenden Konsonanten [I] über den gesamten Tonhöhenumfang ausgeführt werden kann. Für diese Randstimmfunktion ist ein leichter, unangestrengter Glottisschluss notwendig. Sie ist nur bei vollständig gesunden Stimmlippen, die keine Schwellungen aufweisen, möglich.
Abb. 46: Phonationsarten mit unterschiedlichen Verteilungen der Phasen in Abhängigkeit von der Lautstärke;
a = Öffnungsphase, b = Schließungsphase, c = Schlussphase (nach Wendler 1966)
Phonationsarten
Mittels der oben beschriebenen Stimmlippenmechanik können zusammen mit dem Luftstrom Töne bzw. Klänge in unterschiedlicher Weise erzeugt werden. Deshalb spricht man von unterschiedlichen Phonationsarten (Nawka u. Wirth 2007). Hierbei spielen die Tonhöhe (Grundfrequenz), die Auslenkung der Stimmlippenschwingung (Amplitude) und die Form der Schließungs-/Öffnungsbewegung der Glottis (Glottiswelle) eine entscheidende Rolle. Je nachdem wie sich die Öffnungs- und Schließungszeiten und die dazugehörigen Geschwindigkeiten verhalten, wird der Luftstrom effektiver oder weniger effektiv in Klang umgesetzt. Professionelle Sänger steigern im Gegensatz zu stimmlichen Laien die Stimmlautstärke bei konstantem Glottiswiderstand, indem sie den subglottischen Druck und den Luftfluss durch die Glottis – die sogenannte transglottische Strömungsrate – gleichmäßig vergrößern. Wenn die Glottis sehr schnell geschlossen werden kann, entsteht ein reicheres Obertonspektrum, als wenn die Schließung langsamer erfolgt. Die Stimmstärke hängt direkt davon ab, wie stark der Luftstrom abfällt und wie klein der Offenquotient ist. Wendler hat diesen Zusammenhang anschaulich dargestellt (Abb. 46). Man unterscheidet СКАЧАТЬ