Название: Gesammelte Werke
Автор: Ricarda Huch
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 4064066388829
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Schon seit langer Zeit war es namentlich in den Städten üblich, die Pfaffen und Mönche wegen ihres unsittlichen Lebens zu verspotten und zu verachten, der Kirche Habgier und listige Ausbeutung der Deutschen zum Vorwurf zu machen. Bedeutungsvoller noch als solche Anfeindungen aber war das Aufkommen von Ansichten, die der kirchlichen Lehre widersprachen oder sich jenseits derselben bewegten. Nikolaus von Cusa, Bischof von Brixen und Kardinal, hatte Anschauungen, die von dem, was innerhalb der Kirche geläufig und gebräuchlich geworden war, weit abwichen. Als in Wilsnack eine geweihte Hostie aufgefunden wurde, an der sich Spuren des Blutes Christi gezeigt haben sollten, und daraufhin das Dorf ein besuchter Wallfahrtsort wurde, was die Fürsten duldeten, verbot Cusa die Wallfahrten und ließ die Hostie verbrennen, bevor noch die päpstliche Entscheidung erfolgt war. Er befahl den Geistlichen, dergleichen irreführende Wunder nicht zu verbreiten; denn der katholische Glaube lehre, daß der verklärte Leib Christi in verklärten Adern verklärtes Blut enthalte. In seinen Verordnungen gegen den Bilderdienst ging er so weit, daß er die Bilder ganz abgeschafft wissen wollte, wenn sich zeige, daß das Volk mehr an den Bildern hänge, als mit der gesunden Glaubenslehre verträglich sei. Er tadelte die Auffassung der Religion als einer Anstalt für Magie, wozu Volk und Geistlichkeit sie wetteifernd gemacht hätten. Über den Ablaß suchte er richtige Ansichten zu verbreiten und sprach seine Verwunderung darüber aus, daß die Geistlichen soviel Wesens davon machten, da doch ein zerknirschtes und demütiges Herz Vergebung aller Sünden habe. Mit solchen Auffassungen stand Cusa nicht etwa allein: der Grund zu ihnen wurde bei ihm wohl in der Schule von Deventer gelegt, die Gerhard Groot oder de Groot, der von 1340 bis 1384 lebte, gegründet hat. Dieser selbst war beeinflußt von seinem Freunde Heinrich Aeger von Kalkar und von Johann Ruysbroek, so genannt nach einem Dorf in der Nähe von Brüssel, wo er 1293 geboren war. Ruysbroeks Gedankengänge zielten nach Art der Mystiker auf ein Einswerden der menschlichen Seele mit Gott, wobei die Seele nicht in Gott zerfließe, sondern ihre Selbständigkeit behalte. Die beständige Vernichtung unseres Ich in der Liebe ist nach ihm das Wesen der Seligkeit. Das Zusammenleben der Brüder in Grünthal, einem Augustinerkloster, wohin Ruysbroek sich zurückgezogen hatte, machte solchen Eindruck auf Gerhard Groot, daß er nach diesem Muster in seiner Vaterstadt Deventer eine Genossenschaft junger Leute begründete, die ihren Lebensunterhalt durch Abschreiben von Büchern verdienten. Diese »Brüder vom gemeinsamen Leben«, die sich rasch ausbreiteten, unterschieden sich von den Mönchen durch Freiwilligkeit, von der Kirche schied sie ihre Gesinnung, ohne daß sie sich dessen bewußt waren oder darüber nachdachten. Der scholastischen Wissenschaft setzte Gerhard einen Unterricht entgegen, der von der Anschauung des Lebens ausging, etwa vom Leben der Heiligen, namentlich vom Leben Christi. In der Heiligen Schrift, deren Studium er für die wichtigste Aufgabe hielt, suchte er vor allem Christus, Christus als Vorbild und Gegenstand der Liebe, aus der, wenn sie im Menschen entzündet sei, das Gute hervorfließe. Dies, daß nur die göttliche Gnade selig mache, die das Herz mit Liebe erfüllt und aus der Liebe das Gute erzeugt, daß nicht vom Beichtvater vorgeschriebene gute Werke Verdienst erwerben und von Sünde reinigen können, war der Grundgedanke der »Brüder vom gemeinsamen Leben« wie auch vieler anderer Theologen, ein Gedanke, der den Ausgangspunkt und Mittelpunkt der reformatorischen Bewegung des 16. Jahrhunderts bilden sollte. »Ohne die Liebe Gottes und des Nächsten«, sagte der 1380 geborene Thomas a Kempis, »nützen keine Werke, wenn sie auch von Menschen gelobt werden, sondern sie sind wie leere Gefäße, die kein Öl haben, und wie Lampen, die in der Finsternis nicht leuchten.« Indem er so dachte und sprach, fiel es Thomas nicht ein, daß er damit die Kirche angreife oder gar außer ihr stehe; er ging, wie seine Gefährten, still seinen Weg an der Kirche vorüber, als wäre sie nicht da, die mit ihrer Macht und Pracht die Welt erfüllte. Dies gelassene Verkünden evangelischer Gedanken, als wären sie selbstverständlich, dies Nichtbeachten der Kirche hat vielleicht ihre Fundamente ebenso erschüttert wie der bewußte Angriff.
Von den Kämpfern war der bedeutendste Johann Ruckrath, nach der Stadt, wo er im Beginn des 15. Jahrhunderts geboren war, Johann von Wesel genannt, Doktor der Theologie, Professor in Erfurt, später Prediger in Mainz und Worms. Er verband scharfe Urteilskraft und unnachsichtige Logik mit streitbarem Temperament. Seine Kritik wendete sich gegen den im Jahre 1450 durch den Papst eingesetzten und in Deutschland durch Nikolaus von Cusa verkündeten Jubelablaß, im allgemeinen gegen die Entartung der Geistlichen und die Äußerlichkeit der kirchlichen Frömmigkeit. Gleich den »Brüdern vom gemeinsamen Leben« fand er im Evangelium nichts von Werkheiligkeit, sondern Christus und die aus ihm entspringende Liebe, die das Gesetz freiwillig erfüllt. »Denn eine andere Erfüllung des Gesetzes gibt es nicht, als daß die Liebe Gottes ausgegossen ist in das Herz der Menschen. Wer diese festhält, der ist mit Gott ein Geist geworden.« Anders aber als etwa Thomas von Kempen war er sich des Gegensatzes gegen die Kirche durchaus bewußt und rücksichtslos im Ausdruck seiner Kritik, wobei er vor dem Papst selbst nicht haltmachte. Man solle sich nicht schrecken lassen, sagte er, durch päpstliche Blitze, Verwünschungen und Verdammungen, die aus den Bullen – sie wären Papier und Blei – nur kalte Strahlen sendeten. Er starb, bald nachdem er zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt war, 1481 im Augustinerkloster zu Mainz.
In der geistigen Luft, die die »Brüder vom gemeinsamen Leben« umgab, war Nikolaus von Cusa erzogen, und von ihnen ist ihm wohl seine Auffassung von dem ewigen Geheimnis Gott und der Beziehung des Menschen zu Gott überkommen. Auch er dachte nicht an eine Trennung von der Kirche, nicht einmal an einen Gegensatz zu ihr. Den Hussiten hielt er vor, daß es diabolische Vermessenheit sei, eine Überzeugung bis zur Zerreißung der kirchlichen Gemeinschaft, bis zum Schisma durchführen zu wollen. Selbst wenn der Gebrauch des Kelches zu Recht bestehe, werde er zum Unrecht, sowie der Frieden und die Einheit der Kirche darunter leide. Auch insofern kann man ihn keinen Vorläufer Luthers nennen, als er von einem Sichberufen auf die Heilige Schrift nichts wissen wollte; die Heilige Schrift, sagte er, habe nur die Autorität, die die Kirche ihr zubillige. Eher könnte man ihn in mancher Beziehung einen Vorläufer moderner Denkungsart nennen. Wenn er die Bekenntnisse der nichtchristlichen Völker unter dem Aspekt vergleichender Wissenschaft betrachtete, wenn er fand, daß die menschliche Erkenntnis sich der Gottheit, dem unergründlichen Geheimnis, auf verschiedenen Stufen annähere, je nachdem sie von ihrem Lichte getroffen wird, und wenn er glaubte, daß, wenn dies einmal von allen eingesehen werde, ein allgemeiner Religionsfriede alle Völker vereinigen werde, so bereitete er eine Auffassung vor, wie sie erst Jahrhunderte später nicht das Gemeingut aller, aber die Errungenschaft einzelner Geister war.
Wie edel und weise nun aber diese Art zu denken sein mag, unendlich verschieden, wie Mondlicht vom Sonnenlicht verschieden ist, war sie von der religiösen Glut, die einst das Christentum im Abendland entzündete. Cusa mochte es an sich selbst erlebt haben, daß, wie er klagte, die Beschäftigung mit den Künsten und Wissenschaften den Geschmack am Worte Gottes und die Einfalt des Glaubens raube. Die Glut, sagt er, sei erkaltet. Der Gott solcher Denker war nicht mehr der mächtigste unter allen Göttern, der seinen Anbetern Sieg verleiht, das Christentum nicht mehr die Formel, die die Tore des Paradieses auch dem Sünder öffnet. Diese verfeinerte Religion war keine Magie mehr, und wurde sie dadurch auch von mancher düsteren Beimischung geläutert, so büßte sie doch an Jenseitszauber ein. Das Jenseits begann mit dem Diesseits zu verschmelzen. Das bedeutete Veredelung und zugleich Verarmung: auf Kosten des Himmels wurde die Erde ein angenehmer Aufenthalt.
Der eherne Marsch von der unendlichen Herrschaft Roms, dessen triumphierenden Klängen sich einst das Abendland gebeugt hatte, verlor seine Gewalt über die Seelen; ein anderer Gesang, stark, leidenschaftlich, süß, wurde in deutschen Landen angestimmt, der die europäische Welt verwandeln sollte, der Gesang von Freiheit und Gläubigkeit. Er brachte zunächst nur Wirrsal und beförderte die Auflösung. Die Reinheit und Kraft der Urkirche, die das Neue Testament so ergreifend darstellt, ließ sich sowenig wiederbringen, wie die kaiserliche Macht des frühen Mittelalters und damit die Einheit des Reiches sich erneuern ließ. Die Schwächung der bisherigen Ideale, СКАЧАТЬ