Название: Gesammelte Werke
Автор: Ricarda Huch
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 4064066388829
isbn:
Einleitung:
Der Zusammenbruch der mittelalterlichen Weltanschauung
Germania fuit et nunquam erit quod fuit, hat Luther gesagt: Germanien ist gewesen und wird nie wieder sein, was es gewesen ist. Er erlebte den Zusammenbruch des mittelalterlichen Reiches, sah und fühlte, daß seine Ideale für immer der Vergangenheit anheimfielen. Es war der Untergang einer Epoche, reich an Kampf und Irrsal, aber auch überreich an schöpferischer und aufnehmender Kraft, an mannigfachem Wachstum, die eines jugendlich in die Geschichte eintretenden, freiheitliebenden Volkes Mitgift waren. Umfaßt und geeint war diese Vielfalt durch den Äther einer gemeinsamen Weltanschauung, der das diesseits Erwachsene an die Ewigkeit zu binden schien.
Die Dämmerung der romanischen und der Farbenzauber der gotischen Kirchen umfluteten das steinerne Mysterium des Christentums: die Fleischwerdung des Gottmenschen, sein Erlösungswerk und seinen Tod am Kreuz. Das tragische Geschick der Menschheit zwischen Himmel und Erde, ihre Versuchungen, ihre Kämpfe und schmerzlichen Überwindungen, diese unergründlich wunderbare symbolische Geschichte war in allverständlichen Gestaltungen von den Pfeilern und Gewölben abzulesen. Die zahllos im ganzen Abendland aufgebauten Kirchen waren sichtbare Punkte eines unsichtbaren Gerüsts, das die Welt zu einem sinnvollen Gebilde machte, sie durchdrang und trug, einer Weltanschauung, die die Welt war. Denn in ihr war die Weisheit aller Zeiten eingeschmolzen, sei es auch nur, daß sie sie als Gegensatz durchglühte. Sie war ein Werk vieler Jahrhunderte, und ihr Untergang, wenn sie untergehen konnte, schien Weltuntergang zu bedeuten.
Zu Gott zu gelangen war nach mittelalterlicher Anschauung die Aufgabe des Menschen; sie konnte nur erreicht werden innerhalb der Kirche, die von Gott gegründet, göttlich und ewig war. Es war ihr verliehen, dereinst die ganze Menschheit in sich aufzunehmen; sie war gleichsam die Erscheinung des Unvergänglichen in der vergänglichen Welt. Die Mitglieder der Kirche teilten sich in die Laien und den Priesterstand, der teils durch Lehre, teils durch Beispiel die Laien ihrem jenseitigen Ziele zuführte. Wiederum war der Priesterstand geteilt in die Weltgeistlichkeit und die Klostergeistlichkeit, die nicht nur wie jene durch Keuschheit, sondern auch durch Armut und Gehorsam der Heiligkeit sich näherte, die in Gott vollendet wurde. Wer zu Gott gelangen wollte, mußte die Welt überwinden. Indem die Mönche und Nonnen von der Welt abgesondert ganz der Anbetung Gottes, dem Dienste des Nächsten und der Dämpfung der Sinnlichkeit lebten, führten sie den Laien das Bild der Engel vor Augen und genossen deshalb besondere Verehrung. An der Spitze der Priesterschaft stand der Bischof von Rom, der Papst. Zusammen mit Vertretern des Priesterstandes gab er der überirdischen Wahrheit diejenige Form, die sie den Laien faßbar machte und grenzte sie ab gegen den Irrtum.
»Wer ist unter uns, der bei der ewigen Glut wohne?« läßt Jesaias den Sünder sagen. Aber alle Menschen sind Sünder. Die Seher und Weisen aller Zeiten haben gewußt, daß der Mensch Gott in seiner Majestät nicht ertragen kann. Die göttliche Wahrheit dringt nur in gebrochenen Strahlen zur Erde, bietet sich den Menschen dar in Symbolen, Spiegeln gleichsam, die so viel vom göttlichen Wesen auffangen, wie den Menschen erträglich und verständlich ist. Niemals waren die Spiegel der Gottheit so nahe gekommen, so von Gott durchglüht und Gott angeglichen wie in der christlichen Symbolik. Sie zu lehren, auszulegen, in der Tiefe ihrer Bedeutung zu erforschen und zu begründen war die Aufgabe der Priester. Nur durch ihre Vermittelung konnte der Laie in Beziehung zu Gott treten. Sie waren Schutzengel, die den ins Weltliche verflochtenen Menschen den Flug zu Gott lehrten und zugleich wie eine schützende Wolke das furchtbare Geheimnis der göttlichen Majestät umgaben, deren unverhülltes Antlitz das irdische Geschöpf verzehren würde.
Die christliche Weltanschauung konnte das Abendland beherrschen, weil sie erwachsen war auf den Trümmern einer hohen Kultur und über der noch nicht hoch entwickelten Kultur junger Völker, die sie willig in sich aufnahm. Die Herrschaftsstellung, die sie dem Klerus zuwies, wuchs ihm zu, weil die Völker sie bei ihm suchten. Die Führer der Christen verkündigten das hohe Ideal, das die Verwilderten und Erschöpften, die Gelehrigen und Empfänglichen mit Begeisterung ergriffen. Eine neue Welt ging aus dieser Weltanschauung wie aus einem gleichen Samen und gemeinsamer Erde hervor. Alle Äußerungen des menschlichen Geistes wurzelten in ihr und waren von ihr durchdrungen. Ihr dienten die Künste und Wissenschaften, die Denker und Dichter, von ihr erfüllt war das staatliche und wirtschaftliche und häusliche Leben. Wenn auch Krieg, Verbrechen und Irrsal, woran es unter Menschen nie fehlt, das mittelalterliche Abendland wild durchtobten, es war umleuchtet von der Glorie eines einheitlichen erhabenen Glaubens. Die Gebilde der Kunst, die Gesänge in der Kirche, die ernsten und heiteren Spiele des Volkes, alles wies aus der unruhvollen Erde auf die Herrlichkeit Gottes, die dem gläubigen Glied der Kirche zuteil werden sollte. Es wölbte sich über der Erde ein fester Goldgrundhimmel, den die Kirche errichtet hatte. Über ihn hinaus sollte der menschliche Gedanke sich nicht wagen; unter ihm war Frieden. Zweifler und Verzweifelnde beruhigte die Kirche, in ihrem Schoße gab es Antwort für die Gottsucher und Heilung für die an den Rätseln des Daseins Erkrankten. Außerhalb der Kirche waren das Chaos und die Hölle; aber es gab kein Chaos und keine Verdammnis, denen die Kirche den Unseligen nicht hätte entreißen können, der sich ihr gläubig anvertraute.
Was konnte diese Weltanschauung erschüttern? Das Grandiose selbst, das darin lag, war eine Gefahr; denn es erforderte eine ständige Anspannung menschlicher Kraft. Lange Zeit hindurch wurde das natürliche Sinken der religiösen Inbrunst ausgeglichen durch das Auftreten begeisterter Führer, die die Kirche mit neuer Glaubensglut erfüllten. Seit dem 14. Jahrhundert blieben diese Aufschwünge aus; es begann eine Umwälzung im Sinne von Verweltlichung, die fortwährend zunahm. Die Bestimmung des Menschen zum Jenseitigen wich einer skrupellosen Vertiefung in das Irdische. Immer waren die Menschen sinnlich und genußsüchtig gewesen, und sie wurden es desto mehr, je mehr die Möglichkeit bequemer, sogar üppiger Lebenshaltung zunahm; der Unterschied war, daß auch die Geistlichkeit an den Ausschweifungen teilnahm, sich mit Behagen darin gehen ließ, so daß, wo einst an Bischofshöfen, in Stiften und Klöstern, ein Vorbild der Heiligkeit geleuchtet hatte, nun ein Beispiel sinnlicher Lust und sittlicher Verworfenheit gegeben wurde. Das untergrub die Achtung vor dem Klerus und löste den Schimmer von Unantastbarkeit auf, der die Kirche umgeben hatte; sie wurde für das Volk der Laien ein Gegenstand des Hohnes und der Verachtung. Damit wuchs für den mächtigen Gegner der Kirche, den Staat, die Möglichkeit, sie zu besiegen.
Wenn der Mensch zum Bewußtsein kommt, findet er sich in Beziehung zu Gott und in Beziehung zu den Menschen: aus diesen Beziehungen entstehen die Kirche und der Staat. Weil die Beziehung zu Gott die höchste ist, pflegt die Kirche einen Vorrang vor dem Staat zu fordern, wogegen der Staat seine näherliegenden und greifbareren Ansprüche geltend macht. Im Mittelalter gab es einen Staat im eigentlichen Sinne nicht; die Beziehungen zwischen Lehnsherren und Vasallen bildeten das den Körper der Nation zu einem bewußten Ganzen einigende Netz, dessen Mittelpunkt der Kaiser war. In den gewaltigen Kämpfen zwischen Papst und Kaiser, die das Mittelalter erfüllten, erwies sich das Band der Treue als zu schwach gegenüber der Kirche, der Erbin römischer Staatskunst, und der Kaiser unterlag. Inzwischen aber hatte sich, zuerst in den Städten, denen dann die Territorien folgten, ein festeres Regiment herausgebildet, und der Staat, die in einem Punkte zusammengefaßte Gesamtkraft einer Nation oder eines Gebietes, nahm den Kampf СКАЧАТЬ