Große Werke der Literatur XV. Группа авторов
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СКАЧАТЬ vorgetragenen Revisionismus passt. Bedeutende Künstler haben sich von Thoreau inspirieren lassen, allen voran die Altmeister der musikalischen Avantgarde, Charles Ives und John Cage, und neuerdings Christopher Shultis.

      Seit den 1960er Jahren besitzt Walden geradezu Kultstatus. Zur ‚Bibliothek‘ der Hippies gehörten neben Hermann Hesses Steppenwolf und Siddharta, Robert Heinleins Stranger in a Strange Land und Robert M. Pirsigs Zen and the Art of Motorcycle Maintenance auch Thoreaus „Civil Disobedience“ und Walden. Um die gleiche Zeit begann das Buch ein Kriterium des Klassikers zu erfüllen, das erst kürzlich, im Zuge der Rezeptionsästhetik, in die Debatte eingeführt worden ist. Balz Engler zufolge ist ein Klassiker „a work of literature that has left the book.“11 Wer von denen, die ein Verhalten als „quixotic“ bezeichnen und vom „Kampf gegen Windmühlen“ sprechen, hat Cervantes‘ Roman gelesen? Figuren wie Robinson, Frankenstein, Faust oder Don Juan, Wendungen wie „Sein oder Nichtsein“ und „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“ sind längst sprichwörtlich geworden, sie führen ein Eigenleben jenseits der Romane oder Dramen, denen sie entstammen. 1948 fand Thoreaus Experiment eine Fortsetzung in B.F. Skinners Walden Two (1948), einer behavioristischen Utopie, die in das Programm einer bis heute existierenden Kommune einging. Die Hütte am Walden Pond ist zur Chiffre für Ökos, Alternative und Aussteiger geworden, von den militanten tree huggers Kaliforniens über die moderateren wise use-Ökologen im Sinne eines Wendell Berry, die Tiny House-Bewegung und Occupy Wall Street bis hin zu extremen, ja terroristischen Formen libertärer Staatsfeindlichkeit und schließlich der selbstzerstörerischen Zivilisationsflucht eines Christopher McCandless in Jon Krakauers Into the Wild.

      Die amerikanischen Trends wiederum haben längst weltweite Resonanz bzw. Parallelen gefunden. Dem Beispiel Anne Donaths, der Lehrerin, die sich im Oberschwäbischen ein Holzhaus ohne Strom und fast ohne Möbel eingerichtet hat, ihre Kleidung und Schuhe nach Möglichkeit selbst herstellt und im Garten eigenes Gemüse zieht, lassen sich in den letzten Jahren zahlreiche vergleichbare Experimente hinzufügen, und immer wieder fällt dabei der Name Thoreau als Inspirationsquelle oder Bestätigung für diverse Formen alternativen Lebensstils, vom einfachen, anspruchslosen Leben bis hin zum entschiedenen Aussteigertum. Eine kuriose Blüte hat der Thoreau-Kult kürzlich auf dem deutschen Zeitschriftenmarkt getrieben; das Lifestyle-Magazin Walden gibt Tipps, wie ‚Mann‘ das Abenteuer der Wildnis ‚vor der Haustür‘ erleben kann, seine Leser „leben vorwiegend in der Stadt, telefonieren mit Apple, lesen Monocle, fahren DriveNow und Golf Variant für den Wochenendausflug, tragen RedwingBoots und 3Sixteen-Jeans.“12 Besonders amüsiert hätte Thoreau das Ergebnis einer Leserumfrage, wonach 69 % eine „hohe Ausgabenbereitschaft für Outdoorausrüstungen“13 haben.

      Thoreaus Heimatstadt Concord, insbesondere Walden Pond und die (nachgebaute) Hütte gehören zu den Touristenattraktionen, wenn nicht gar Wallfahrtsorten Neuenglands. Der „different drummer“ (326), mit dem im Schlusskapitel von Walden das Bild des Nonkonformisten beschworen wird, hat sich zum Markenartikel für zahlreiche Produkte von Küchengeräten und Kochkursen zu CD-Labels und T-Shirts entwickelt. Mit einer Verzögerung von ein bis zwei Generationen hat Thoreau seinen Mentor Ralph Waldo Emerson eingeholt, ja überholt, indem er nicht nur wie jener zur Institution der elitären Hochkultur, sondern darüber hinaus auch zur Pop-Ikone avanciert ist. Neben den zahllosen Thoreau-Karikaturen, die offenbar nicht nur von Lesern des New Yorker goutiert werden, zeugt davon neuerdings auch ein (inzwischen mehrfach ausgezeichnetes) Computerspiel, mit dem das Walden-Experiment virtuell nachvollzogen werden kann.14

      Wem diese Seite des Thoreau-Kults auf die Nerven geht, sei ein Besuch Concords empfohlen. Bei aller Kommerzialisierung hat sich das Städtchen ein erstaunliches Maß an Beschaulichkeit bewahrt. Neben Boston, Philadelphia und Gettysburg gehört es zu den großen Erinnerungsorten der USA; es war hier, an der über den Concord River führenden North Bridge, dass erstmals die Miliz der amerikanischen Kolonisten das Feuer auf reguläre britische Truppen eröffnete und jenen Schuss abfeuerte, der sich im Rückblick als Signal für den Unabhängigkeitskampf der USA und damit für eine Zäsur der Weltgeschichte darstellen würde. Wie es Emerson 1836 in seiner Hymne zur Einweihung des Denkmals an der Old North Bridge formulierte:

      Here once the embattled farmers stood,

      And fired the shot heard round the world.15

      Damit ist ein Bezugsrahmen angedeutet, der zum Schluss kurz skizziert werden soll, lädt er doch zu einer ebenso aktuellen wie zwiespältigen Pointe ein. Ich habe Walden als Klassiker betrachtet und damit Vorstellungen von Überzeitlichkeit und Universalität verbunden. Nachzutragen ist die nationale, ja bis zu einem gewissen Grade nationalistische und gar (im positiven Sinne) lokalpatriotisch-chauvinistische Dimension des Buches. Thoreau bezog seine Hütte am 4. Juli – reiner Zufall, wie der Autor behauptet, aber selbst als Zufall ein bedeutsamer Fingerzeig: Thoreau versteht sich als Amerikaner, sein Experiment knüpft an jene Emanzipation an, für die im Kalender der USA noch heute Independence Day steht, in Erinnerung an den 4. Juli 1776, an dem die Gründungsurkunde der Vereinigten Staaten, die Declaration of Independence, unterzeichnet wurde. Thoreau als Amerikaner, Walden als Ausdruck eines amerikanischen Selbstbewusstseins – normalerweise mache ich um diesen Aspekt nicht allzu viel Aufhebens, gehört Walden doch längst zur Weltliteratur. Aber es gibt Zeiten, da kann man gar nicht genug Aufhebens darum machen, steht doch Thoreau mit seiner Biographie wie mit seinem Werk für ein nobles, anspruchsvolles und nicht zuletzt weltoffenes Amerika ein, das umso größeren Respekt verdient, als es seit einiger Zeit Tag für Tag in einen Morast primitiver Tweets ‚getrumpelt‘ wird.

      Literaturverzeichnnis

       Primärliteratur:

      Emerson, Ralph Waldo: „Hymn: Sung at the Completion of the Concord Monument“. Collected Poems and Translations. Hgg. Harold Bloom und Paul Kane. New York 1994, S. 125.

      Thoreau, Henry David: Walden. Hg. J. Lyndon Shanley. Princeton 1971.

      — : Journal. Bisher 8 Bände. Hgg. Elizabeth Hall Witherell (u.a.). Princeton 1981.

       Deutsche Übersetzungen:

      Walden, oder Leben in den Wäldern. Übers. Emma Emmerich und Tatjana Fischer. Zürich 2004.

      Walden: Ein Leben mit der Natur. Übers. Erika Ziha. München 1999.

      Walden, oder Leben in den Wäldern. Übers. Anneliese Dangel. Köln 2009.

       Sekundärliteratur:

      Coetzee, J.M.: „What is a Classic? A Lecture“ (1991). Stranger Shores: Essays 1986–1999. London 2002, 1–19.

      Donath, Anne: Wer wandert, braucht nur, was er tragen kann: Bericht über ein einfaches Leben. München 2006.

      Eliot, T.S.: „From Poe to Valéry“ (1948). The Recognition of Edgar Allan Poe. Hg. Eric W. Carlson. Ann Arbor 1970, 205–219.

      — : „What is a Classic?“ (1944). Selected Prose of T.S. Eliot. Hg. Frank Kermode. London 1975, 115–131.

      Engler, Balz: „What is a Classic?“ Poetry and Community. Tübingen 1990, 42–57.

      James, Henry: The American Scene (1907). Collected Travel Writings: Great Britain and America. Hg. Richard Howard. New York 1993, 351–736.

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