Große Werke der Literatur XV. Группа авторов
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СКАЧАТЬ Klassiker erkenne man unter anderem daran, dass ihn jeder ‚kennt‘, ohne ihn wirklich gelesen zu haben – frei nach Pudd’nhead Wilsons Definition in Mark Twains Following the Equator (Motto zu Kap. 25): „‚Classic.‘ A book which people praise and don’t read.“4

      Zu Beginn greife ich ein Kriterium auf, das Eliot in die Diskussion eingebracht hat und das auf den ersten Blick geeignet erscheint, Walden den Status des Klassikers abzusprechen: das der Reife. Im Hauptteil meiner Ausführungen konzentriere ich mich dann auf die Verschränkung von Innovation und Restauration, Radikalität und Konservatismus, die bereits Sainte-Beuve als Merkmal des Klassikers herausstellte. Dabei werden auch Thoreaus eigene, vor allem im „Reading“-Kapitel von Walden formulierte Gedanken zur Geltung kommen. Klassiker, so Thoreau, sind ‚natürlich‘ in dem Sinne, dass sie, wie die Natur, im Wandel lebendig bleiben; indem wir sie lesen und studieren, teilt sich uns, wie beim Erforschen der Natur, ihre Regenerationskraft mit. Abschließend werde ich die Frage ansprechen, inwieweit das Prestige eines Klassikers sich von der tatsächlichen Lektüre lösen kann – in welchem Maße auch für Walden eine Bemerkung Balz Englers gilt, der nach eingehender Würdigung der Klassiker-Debatte von Sainte-Beuve bis Kermode und Hans-Robert Jauss den Vorschlag macht, unter dem Klassiker ein Werk zu verstehen, das unabhängig von dem Buch existiert, als das es ursprünglich erschienen ist.

      In „What is a Classic“ (1944) formuliert T.S. Eliot, der Kritikerpapst der anglo-amerikanischen Moderne, gewohnt apodiktisch: „A classic […] must be the work of a mature mind.“5 Ich stelle das Kriterium der Reife an den Anfang, weil es die Gelegenheit bietet, einige der gewichtigsten Einwände gegen Thoreaus Buch aufzugreifen, scheint es doch auf den ersten Blick wie kein anderes geeignet, Walden als Klassiker zu demontieren. Es gibt meines Wissens keine expliziten Kommentare Eliots zu Thoreau, aber er hätte er ihn mit Sicherheit in derselben Schublade abgelegt wie Edgar Allan Poe, von dem er sagt, Poes Werk illustriere „the intellect of a highly gifted young person before puberty“; er stelle ihn sich vor als „a man of very exceptional mind and sensibility, whose emotional development has been in some respect arrested at an early age.“6

      Aus zwei Gründen bin ich mir sicher, dass Eliot mit Thoreau genauso verfahren wäre wie mit Poe. Zum einen ist es Thoreau in der Tat so ergangen, und zwar schon 1865, wenige Jahre nach seinem Tod, in einer vernichtenden ‚Würdigung‘ James Russell Lowells, des zu seiner Zeit einflussreichsten Kritikers in den USA, und dann erst kürzlich wieder in einem New Yorker-Aufsatz von Kathryn Schulz. Beide diagnostizieren an Thoreau narzisstisch-regressive Züge, die Unfähigkeit zu Selbstkritik und Selbstironie. Zum anderen war dies auch meine erste Reaktion auf Walden. Nach über vierzigjähriger Beschäftigung mit den amerikanischen Transzendentalisten erinnere ich mich immer noch gut an die Irritation, die Thoreau anfangs in mir auslöste. Bereits im zweiten Absatz blieb ich hängen, an der Passage, in der Thoreau dem Leser ankündigt, er werde im Folgenden vorwiegend über sich selbst schreiben und dabei ausgiebigen Gebrauch von der Ersten Person Singular machen:

      In most books, the I, or first person, is omitted; in this it will be retained; that, in respect to egotism, is the main difference. We commonly do not remember that it is, after all, always the first person that is speaking. I should not talk so much about myself if there were any body else whom I knew as well (3).7

      Thoreaus Tonfall hatte etwas vom Quengeln eines Teenagers; wollte hier jemand, der es trotz Harvard-Diplom zu nichts gebracht hatte, seine Unsicherheit und Unreife mit einem Ego-Trip kompensieren? Schließlich war unsereinem schon in der Oberstufe des Gymnasiums beigebracht worden, dass man, wenn man etwas zu sagen hat, unpersönlich formuliert – ein Stilprinzip, das im Studium durch die in meiner Generation epidemische Adorno-Lektüre bestärkt wurde, hatte doch unser Frankfurter Guru immer wieder darauf bestanden, in Wort und Schrift ‚die Sache selbst‘ zur Sprache zu bringen. Walden war für mich auf Seite 1 erledigt.

      Ich habe Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass das Ich von Walden zwar autobiographisch grundiert ist – hier berichtet einer mit dem auf persönlicher Erfahrung beruhenden Anspruch auf Authentizität – , dass es aber zugleich eine persona ist, eine Maske, die zu bestimmten Zwecken eingesetzt wird, hinter der der Autor sich ebenso verbirgt wie er sich durch sie enthüllt. Das Insistieren auf dem persönlichen Erfahrungsgrund verbindet sich mit einem raffinierten, alles andere als pubertären Spiel, mit einer sophistication, die den Erzählstrategien eines Jonathan Swift oder eines Nathaniel Hawthorne (dem Kermode in The Classic fast ein ganzes Kapitel widmet) in nichts nachsteht.

      Einmal als Spiel erkannt, erweist sich die Ich-persona als höchst wirkungsvolles Instrument des Selbstausdrucks ebenso wie der sozialkritischen Analyse. Denn genau das leistet Walden, für den Leser am leichtesten nachvollziehbar im ersten und mit großem Abstand längsten Kapitel mit der Überschrift „Economy“. Hier dient das Ich in erster Linie der Polemik; es wird in Stellung gebracht gegen eine Gesellschaft, deren Ideologie – plakativ ausgedrückt – Glück verspricht und Frustration liefert. „The mass of men lead lives of quiet desperation“ (8) – der Satz aus „Economy“ gehört mit Recht zu den meistzitierten des Buches, fasst er doch eine Zeitdiagnose zusammen, die an Radikalität und Schärfe ihresgleichen sucht. Drei Generationen nach der Unabhängigkeitserklärung der USA, in deren Präambel neben dem Recht auf Leben und Freiheit die Verwirklichung des Glücks – ‚the pursuit of happiness‘ – zu den unveräußerlichen Menschenrechten gezählt wird, entwirft Thoreau das Panorama einer Gesellschaft, die systematisch die Ideale verrät, unter denen sie angetreten ist. So ist insbesondere der freie Bauer, die Idealfigur der von Thomas Jefferson anvisierten Republik, alles andere als frei; Tag für Tag rackert er sich ab, um die auf seiner Farm lastenden Hypothekenzinsen zu bedienen. Der hochgepriesene technische Fortschritt – in den 1840er Jahren besonders markant sichtbar in der gerade in Concord angekommenen Eisenbahn sowie an den Telegraphendrähten – geht nicht nur auf Kosten der Arbeiter, vor allem irischer Einwanderer, er entfremdet uns von der Natur als Erfahrungsraum und untergräbt damit auch die Zivilisation, als deren Triumph er gefeiert wird.

      Witzig und unterhaltsam reiht Thoreau Beispiel an Beispiel, um aufzuzeigen, wie die ökonomischen Mechanismen, die doch der Theorie nach der Befriedigung unser Grundbedürfnisse dienen – Arbeit und Produktion, Privatbesitz, Arbeitsteilung, Standardisierung, Wettbewerb und Markt – nicht nur diese Bedürfnisse nicht wirklich befriedigen im Sinne eines angemessenen Kosten-Nutzen-Verhältnisses. Zur gleichen Zeit wie Karl Marx liefert Thoreau eine umfassende Darstellung der Entfremdung, indem er die zahllosen sekundären Bedürfnisse entlarvt, die unser Leben beherrschen: das Diktat der Mode und der Statussymbole, vor allem aber das – schon von Swift in Gulliver’s Travels mit ätzender Satire gegeißelte – Verlangen nach Luxus, das seinerseits kollektive Verbrechen wie die Sklaverei und den kolonialen Expansionismus des Mexican War antreibt. Mit unseren natürlichen Bedürfnissen haben diese Fehlentwicklungen nichts zu tun, aber dank Adam Smith, David Ricardo und Jean-Baptiste Say (von Thoreau in Walden genannte Nationalökonomen) besitzen sie geradezu axiomatisches Prestige.

      Angesichts dieser desaströsen Entwicklungen geriert sich das Thoreausche Ich bald amüsiert, bald empört; bald höhnisch, bald empathisch-mitleidig, stets aber witzig und immer wieder auch mit einem Schuss Selbstironie, der allein ausreichen müsste, das Verdikt pubertärer Nabelschau auszuräumen. Thoreau versteht sein eigenes Experiment als Versuch einer alternativen Ökonomik; die einfache selbstgebaute Hütte, relative Bedürfnislosigkeit in Kleidung und Nahrung, ein selbst angelegtes Bohnenfeld – all das befreit ihn weitgehend vom Leistungsdruck, unter dem seine Nachbarn in Concord leiden. Zugleich ‚verkauft‘ er (im Unterschied zum Benjamin Franklin der Autobiography) sein Beispiel nicht als Erfolgsrezept, er warnt ausdrücklich davor, es ihm nachzutun, und wenn er sich mit den Farmern von Concord vergleicht und meint, er sei nicht nur freier, sondern auch im materiellen Sinne erfolgreicher gewesen als sie, so macht er sich auch immer wieder über sich selbst lustig.

      Dabei hilft ihm seine stilistische Brillanz, greifbar etwa an den zahllosen Wortspielen, die das Buch gelegentlich zum Albtraum für Übersetzer machen können, sind СКАЧАТЬ