Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ der Maßstab der Beurteilung, als zuvörderst und in erster Linie die Grundlage einer völlig anderen, nicht beurteilend eingestellten Art von Kritik, deren Schwergewicht nicht in der Einschätzung des einzelnen Werkes, sondern in der Darstellung seiner Relationen zu allen übrigen Werken und endlich zu der Idee der Kunst liegt. Friedrich Schlegel bezeichnet es als die Tendenz seines kritischen Werkes »trotz eines oft peinlichen Fleißes im einzelnen … dennoch alles im ganzen nicht sowohl beurteilend zu würdigen, als zu verstehen und zu erklären«.201 Kritik ist also, ganz im Gegensatz zur heutigen Auffassung ihres Wesens, in ihrer zentralen Absicht nicht Beurteilung, sondern einerseits Vollendung, Ergänzung, Systematisierung des Werkes, andrerseits seine Auflösung im Absoluten. Beide Prozesse fallen letzten Endes, wie sich noch zeigen wird, zusammen. Das Problem der immanenten Kritik verliert seine Paradoxie202 in der romantischen Definition dieses Begriffs, nach welchem er nicht eine Beurteilung des Werkes meint, für die einen ihm immanenten Maßstab anzugeben widersinnig wäre. Kritik des Werkes ist vielmehr seine Reflexion, welche selbstverständlich nur den ihm immanenten Keim derselben zur Entfaltung bringen kann.

      Diese Theorie der Kritik erstreckt ihre Folgerungen allerdings auch auf die Theorie der Beurteilung der Werke. In drei Grundsätzen lassen diese Folgerungen sich aussprechen, welche ihrerseits die unmittelbare Entgegnung auf die oben aufgeworfene Paradoxie des Gedankens der immanenten Beurteilung geben. Diese drei Grundsätze der romantischen Theorie der Beurteilung von Kunstwerken lassen sich formulieren als das Prinzip von der Mittelbarkeit der Beurteilung, von der Unmöglichkeit einer positiven Wertskala und von der Unkritisierbarkeit des Schlechten.

      Das erste Prinzip, eine klare Folgerung aus dem Dargelegten, besagt, daß die Beurteilung eines Werkes niemals eine explizite, sondern stets eine im Faktum seiner romantischen Kritik (d. h. seiner Reflexion) implizierte sein muß. Denn der Wert des Werkes hängt einzig und allein davon ab, ob es seine immanente Kritik überhaupt möglich macht oder nicht. Ist diese möglich, liegt also im Werke eine Reflexion vor, welche sich entfalten, absolutieren und im Medium der Kunst auflösen läßt, so ist es ein Kunstwerk. Die bloße Kritisierbarkeit eines Werkes stellt das positive Werturteil über dasselbe dar; und dieses Urteil kann nicht durch eine gesonderte Untersuchung, vielmehr allein durch das Faktum der Kritik selbst gefällt werden, weil es gar keinen andern Maßstab, kein Kriterium für das Vorhandensein einer Reflexion gibt, als die Möglichkeit ihrer fruchtbaren Ent! faltung, die Kritik heißt. Jene implizite Beurteilung der Kunstwerke in der romantischen Kritik ist zweitens dadurch bemerkenswert, daß ihr keine Wertskala zur Verfügung steht. Ist ein Werk kritisierbar, so ist es ein Kunstwerk, andernfalls ist es keines – ein Mittleres zwischen diesen beiden Fällen ist undenkbar, unerfindlich aber auch ein Kriterium der Wertunterscheidung unter den wahren Kunstwerken selbst. Das meint Novalis mit den Worten: »Kritik der Poesie ist ein Unding. Schwer schon ist zu entscheiden, doch einzig mögliche Entscheidung, ob etwas Poesie sei oder nicht«.203 Und Friedrich Schlegel formuliert das gleiche, wenn er sagt, daß der Stoff der Kritik »nur das Klassische und schlechthin Ewige sein kann«.204 In dem Grundsatz von der Unkritisierbarkeit des Schlechten liegt eine der charakteristischsten Ausprägungen der romantischen Konzeption der Kunst und ihrer Kritik vor. Am deutlichsten hat ihn Schlegel im Abschluß des Lessingaufsatzes ausgesprochen: Es »kann … wahre Kritik gar keine Notiz nehmen von Werken, die nichts beitragen zur Entwicklung der Kunst …; ja es ist sonach eine wahre Kritik auch nicht einmal möglich von dem, was nicht in Beziehung steht auf jenen Organismus der Bildung und des Genies, von dem, was fürs Ganze und im Ganzen eigentlich nicht existiert«.205 »Es wäre illiberal, nicht vorauszusetzen, ein jeder Philosoph sei … rezensibel; … Aber anmaßend wäre es, Dichter ebenso zu behandeln; es müßte denn einer durch und durch Poesie und gleichsam ein lebendes und handelndes Kunstwerk sein,« heißt es im 67. Athenäumsfragment. Der romantische terminus technicus für das Verhalten, welches nicht nur in der Kunst, sondern auf allen Gebieten des Geisteslebens dem Grundsatz der Unkritisierbarkeit des Schlechten entspricht, heißt »annihilieren«. Er bezeichnet die indirekte Widerlegung des Nichtigen durch Stillschweigen, durch seine ironische Lobpreisung oder durch die Lobeserhebung des Guten. Die Mittelbarkeit der Ironie ist im Sinne Schlegels der einzige Modus, unter dem die Kritik dem Nichtigen geradezu entgegenzutreten vermag.

      Es soll wiederholt werden, daß die Frühromantiker diese wichtigen sachlichen Bestimmungen über die Kunstkritik nicht im Zusammenhange gegeben haben, daß ihnen die geprägten Formulierungen in ihrer systematischen Schärfe zum Teil gewiß fern lagen, daß keiner der drei Grundsätze in ihrer Praxis streng befolgt worden ist. Hier handelt es sich weder um die Untersuchung ihrer kritischen Gepflogenheiten, noch um die Zusammenstellung dessen, was in diesem oder jenem Sinne bei ihnen über Kunstkritik zu finden ist, sondern um die Analysis dieses Begriffs nach seinen eigensten philosophischen Intentionen. Kritik, welche für die heutige Auffassung das Subjektivste ist, war für die Romantiker das Regulativ aller Subjektivität, Zufälligkeit und Willkür im Entstehen des Werkes. Während sie sich nach heutigen Begriffen aus der sachlichen Erkenntnis und der Wertung des Werkes zusammensetzt, ist es das Auszeichnende des romantischen Kritikbegriffs, eine besondere subjektive Einschätzung des Werkes im Geschmacksurteil nicht zu kennen. Die Wertung ist der sachlichen Untersuchung und Erkenntnis des Werkes immanent. Nicht der Kritiker fällt über dieses das Urteil, sondern die Kunst selbst, indem sie entweder im Medium der Kritik das Werk in sich aufnimmt oder es von sich abweist und eben dadurch unter aller Kritik schätzt. Die Kritik sollte mit dem, was sie behandelt, die Auslese unter den Werken herstellen. Ihre objektive Intention hat sich nicht allein in ihrer Theorie ausgesprochen. Wenigstens ist, wenn in ästhetischen Dingen die historische Geltungsdauer der Einschätzungen einen Hinweis auf das, was man allein sinngemäß ihre Objektivität nennen kann, gibt, die Geltung der kritischen Urteile der Romantik bestätigt worden. Sie haben die Grundeinschätzung der historischen Werke Dantes, Boccaccios, Shakespeares, Cervantes’, Calderons ebenso wie die der ihnen gegenwärtigen Erscheinung Goethes bis auf die Gegenwart bestimmt.206

      Die Kraft der objektiven Intentionen in der Frühromantik ist von den meisten Autoren gering eingeschätzt worden. Da Friedrich Schlegel selbst von der Epoche seiner »revolutionären Objektivitätwut«, von der unbedingten Verehrung des griechischen Kunstgeistes sich bewußt abgewandt hatte, suchte man in den Schriften seiner reiferen Zeit vor allem nach den Dokumenten der Reaktion gegen diese Jugendideen, und man fand sie im reichsten Maße. So zahlreiche Belege einer übermütigen Subjektivität sich aber in diesen Schriften in der Tat finden, so ist doch schon die Erwägung der ultraklassizistischen Anfänge und des streng katholischen Ausgangs dieses Schriftstellers geeignet, die Betonung der subjektivistischen Formeln oder Formulierungen aus der Zeit von 1796 bis 1800 zu mäßigen. Denn um bloße Formulierungen handelt es sich in seinen subjektivsten Aussprüchen zum Teil in der Tat; es sind Prägungen, die man nicht immer für bare Münze zu nehmen hat. Man hat den philosophischen Standpunkt Friedrich Schlegels zur Athenäumszeit meist durch seine Theorie der Ironie gekennzeichnet. Sie ist an dieser Stelle einmal darum zu behandeln, weil unter ihrem Titel prinzipielle Einwendungen gegen die Betonung der objektiven Momente seines Denkens nahe liegen; ferner aber, weil jene Theorie in einer bestimmten Hinsicht mit diesen Momenten, weit entfernt, ihnen zu widersprechen, in einem engen Zusammenhang steht.

      Zahlreiche Elemente sind in den verschiedenen Auslassungen über die Ironie zu unterscheiden, ja es dürfte zum Teil ganz unmöglich sein, diese verschiedenartigen Elemente in einem Begriff ohne Widersprüche zu vereinigen. Der Ironiebegriff hat eben für Schlegel seine zentrale Bedeutung nicht nur durch seine Beziehung auf bestimmte Sachverhalte in einem theoretischen Sinn, sondern mehr noch als eine lediglich intentionale Einstellung erhalten. Als solche hatte diese Einstellung nicht einen Sachverhalt im Auge, sondern lag als Äußerung einer stets lebendigen Opposition gegen herrschende Ideen und häufig als Maske der Hilflosigkeit ihnen gegenüber in Bereitschaft. Nicht in seiner Bedeutung für die Individualität, wohl aber für das Weltbild Schlegels kann daher der Ironiebegriff leicht überschätzt werden. Die klare Einsicht in diesen Begriff wird endlich dadurch erschwert, daß auch da, wo er unstreitig auf gewisse Sachverhalte anspielt, unter den mannigfachen Beziehungen, die er eingeht, es nicht immer leicht ist, die im einzelnen Fall gemeinten, und sehr schwer, die allgemein maßgebenden festzustellen. Soweit diese Sachverhalte nicht die Kunst, sondern Erkenntnistheorie und Ethik СКАЧАТЬ