Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ es keine politische Energie, die sich mit der eines Daumier hätte vergleichen lassen. Die Reaktion ist also die Voraussetzung, »aus der sich die kolossale Revue des bürgerlichen Lebens erklärt, die … in Frankreich einsetzte … Alles defilierte vorüber … Freudentage und Trauertage, Arbeit und Erholung, Eheliche Sitten und Junggesellengebräuche, Familie, Haus, Kind, Schule, Gesellschaft, Theater, Typen, Berufe.«943

      Die Gemächlichkeit dieser Schildereien paßt zu dem Habitus des Flaneurs, der auf dem Asphalt botanisieren geht. Aber schon damals konnte man nicht überall in der Stadt umherschlendern. Breite Bürgersteige waren vor Haussmann selten; die schmalen boten wenig Schutz vor den Fuhrwerken. Die Flanerie hätte sich zu ihrer Bedeutung schwerlich ohne die Passagen entwickeln können. »Die Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus«, sagt ein illustrierter pariser Führer von 1852, »sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so daß eine solche Passage eine Stadt, eine Welt im Kleinen ist.« In dieser Welt ist der Flaneur zuhause; er verhilft »dem Lieblingsaufenthalte der Spaziergänger und der Raucher, dem Tummelplatze aller möglichen kleinen Metiers«944 zu seinem Chronisten und seinem Philosophen. Sich selber aber verhilft er dort zu dem unfehlbaren Heilmittel gegen die Langeweile, wie sie unter dem Basiliskenblick einer saturierten Reaktion leicht gedeiht. »Wer imstande wäre«, so lautet ein durch Baudelaire überliefertes Wort von Guys, »sich in einer Menschenmenge zu langweilen, ist ein Dummkopf. Ein Dummkopf, wiederhole ich, und ein verächtlicher.«945 Die Passagen sind ein Mittelding zwischen Straße und Interieur. Will man von einem Kunstgriff der Physiologien reden, so ist es der bewährte des Feuilletons: nämlich den Boulevard zum Interieur zu machen. Die Straße wird zur Wohnung für den Flaneur, der zwischen Häuserfronten so wie der Bürger in seinen vier Wänden zuhause ist. Ihm sind die glänzenden emaillierten Firmenschilder so gut und besser ein Wandschmuck wie im Salon dem Bürger ein Ölgemälde; Mauern sind das Schreibpult, gegen das er seinen Notizblock stemmt; Zeitungskioske sind seine Bibliotheken und die Caféterrassen Erker, von denen aus er nach getaner Arbeit auf sein Hauswesen heruntersieht. Daß das Leben in seiner ganzen Vielfalt, in seinem unerschöpflichen Reichtum an Variationen erst zwischen den grauen Pflastersteinen und vor dem grauen Hintergrunde der Despotie gedeiht – das war der politische Hintergedanke des Schrifttums, dem die Physiologien angehörten.

      Dieses Schrifttum war auch gesellschaftlich nicht geheuer. Der langen Reihe von kauzigen oder simplen, gewinnenden oder strengen Charakterköpfen, die die Physiologien dem Leser vorstellen, ist eines gemeinsam: sie sind harmlos, von vollendeter Bonhomie. Eine solche Ansicht vom Nebenmenschen lag zu weit von der Erfahrung ab, um sich nicht von ungewöhnlich triftigen Ursachen herzuschreiben. Sie kam aus einer Beunruhigung von besonderer Art. Die Leute hatten mit einem neuen, ziemlich befremdenden Umstand sich abzufinden, der den Großstädten eigentümlich ist. In einer glücklichen Formulierung hat Simmel festgehalten, was hier in Frage steht. »Wer sieht, ohne zu hören, ist viel … beunruhigter als wer hört, ohne zu sehen. Hier liegt etwas für die Soziologie der Großstadt Charakteristisches. Die wechselseitigen Beziehungen der Menschen in den Großstädten … zeichnen sich durch ein ausgesprochenes Übergewicht der Aktivität des Auges über die des Gehörs aus. Die Hauptursachen davon sind die öffentlichen Verkehrsmittel. Vor der Entwicklung der Omnibusse, der Eisenbahnen, der Tramways im neunzehnten Jahrhundert waren die Leute nicht in die Lage gekommen, lange Minuten oder gar Stunden sich gegenseitig ansehen zu müssen, ohne aneinander das Wort zu richten.«946 Der neue Zustand war, wie Simmel erkennt, kein anheimelnder. Schon Bulwer instrumentierte seine Schilderung der großstädtischen Menschen im »Eugen Aram« mit dem Hinweis auf die Goethische Bemerkung, jeder Mensch, der beste wie der elendeste, trage ein Geheimnis mit sich herum, das ihn allen andern verhaßt machen würde, sollte es bekannt werden947. Ähnliche beunruhigende Vorstellungen als geringfügig beiseite zu schieben, waren die Physiologien gerade gut. Sie stellten, wenn man so sagen darf, die Scheuklappen des ›bornierten Stadttiers‹948 vor, von dem bei Marx einmal die Rede ist. Wie gründlich sie, wo es nottat, den Blick beschränkten, zeigt eine Schilderung des Proletariers in Foucauds »Physiologie de l’industrie française«: »Ruhiger Genuß ist für den Arbeiter geradezu erschöpfend. Sei das Haus, das er bewohnt, unter wolkenlosem Himmel noch so begrünt, von Blumen durchduftet und vom Gezwitscher der Vogel belebt – ist er müßig, so bleibt er den Reizen der Einsamkeit unzugänglich. Trifft aber zufällig ein scharfer Ton oder Pfiff aus einer entfernten Fabrik sein Ohr, hört er auch nur das einförmige Geklapper, das vom Mühlwerk einer Manufaktur herrührt, gleich heitert sich seine Stirne auf … Er spürt nicht mehr den erlesenen Blumenduft. Der Rauch aus dem hohen Fabrikschornstein, die dröhnenden Schläge vom Amboß her lassen ihn vor Freude erzittern. Er erinnert sich der seligen Tage seiner durch den Geist des Erfinders gelenkten Arbeit.«949 Der Unternehmer, der diese Beschreibung las, ging vielleicht gelassener als sonst zur Ruhe.

      Das Nächstliegende war in der Tat, den Leuten voneinander ein freundliches Bild zu geben. Damit webten die Physiologien auf ihre Art an der Phantasmagorie des pariser Lebens. Aber ihr Verfahren konnte nicht sehr weit führen. Die Leute kannten einander als Schuldner und Gläubiger, als Verkäufer und Kunde, als Arbeitgeber und Angestellter – vor allem kannten sie einander als Konkurrenten. Ihnen von ihren Partnern die Vorstellung eines harmlosen Originals zu erwecken, erschien auf die Dauer nicht aussichtsreich. Daher bildete sich in diesem Schrifttum früh eine andere Ansicht der Sache aus, die sehr viel tonischer wirken konnte. Sie geht auf die Physiognomiker des achtzehnten Jahrhunderts zurück. Mit deren solideren Bemühungen hat sie allerdings wenig zu tun. Bei Lavater oder bei Gall war neben der Spekulation und Schwärmerei echte Empirie mit im Spiel. Die Physiologien zehrten von deren Kredit, ohne aus Eigenem dazuzugeben. Sie versicherten, jedermann sei, von Sachkenntnis ungetrübt, imstande, Beruf, Charakter, Herkunft und Lebensweise der Passanten abzulesen. Bei ihnen erscheint diese Gabe als eine Fähigkeit, die die Feen dem Großstädter in die Wiege legen. Mit solchen Gewißheiten war vor allen andern Balzac in seinem Element. Seine Vorliebe für uneingeschränkte Aussagen fuhr gut mit ihnen. »Das Genie«, schreibt er beispielsweise, »ist im Menschen so sichtbar, daß der Ungebildetste, wenn er sich in Paris ergeht und dabei einen großen Künstler kreuzt, sofort wissen wird, woran er ist.«950 Delvau, Baudelaires Freund und der interessanteste unter den kleinen Meistern des Feuilletons, will das Publikum von Paris nach seinen verschiedenen Schichten so leicht auseinanderhalten wie ein Geologe die Schichtungen im Gestein. Ließ sich dergleichen tun, dann war allerdings das Leben in der Großstadt nicht entfernt so beunruhigend, wie es den Menschen wahrscheinlich vorkam. Dann war es nur eine Floskel, wenn Baudelaire fragt, »was sind die Gefahren des Waldes und der Prärie mit den täglichen Chocks und Konflikten in der zivilisierten Welt verglichen? Ob der Mensch auf dem Boulevard sein Opfer unterfaßt oder in unbekannten Wäldern seine Beute durchbohrt – bleibt er nicht hier und dort das vollkommenste aller Raubtiere?«951

      Baudelaire gebraucht für dieses Opfer den Audruck ›dupe‹; das Wort bezeichnet den Betrogenen, Genasführten; zu ihm steht der Menschenkenner im Gegensatz. Je weniger geheuer die Großstadt wird, desto mehr Menschenkenntnis, so dachte man, gehört dazu, in ihr zu operieren. In Wahrheit führt der verschärfte Konkurrenzkampf den Einzelnen vor allem dahin, seine Interessen gebieterisch anzumelden. Deren präzise Kenntnis wird, wenn es gilt, das Verhalten eines Menschen abzuschätzen, oft viel dienlicher als die seines Wesens sein. Die Gabe, deren der Flaneur sich so gerne rühmt, ist darum eher eines der Idole, die schon Baco auf dem Markte ansiedelt. Baudelaire hat diesem Idol kaum gehuldigt. Der Glaube an die Erbsünde feite ihn gegen den Glauben an Menschenkenntnis. Er hielt es mit de Maistre, der seinerseits das Studium des Dogmas mit dem des Baco vereinigt hatte.

      Die beruhigenden Mittelchen, welche die Physiologisten feilhielten, waren bald abgetan. Der Literatur dagegen, die sich an die beunruhigenden und bedrohlichen Seiten des städtischen Lebens gehalten hat, sollte eine große Zukunft beschieden sein. Auch diese Literatur hat es mit der Masse zu tun. Sie verfährt aber anders als die Physiologien. Ihr liegt an der Bestimmung von Typen wenig; sie geht vielmehr den Funktionen nach, welche der Masse in der großen Stadt eigen sind. Unter ihnen drängte eine sich auf, die schon СКАЧАТЬ