Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ wo jeder einzelne allen andern sozusagen unbekannt ist und daher vor niemandem zu erröten braucht.«952 Hier erscheint die Masse als das Asyl, das den Asozialen vor seinen Verfolgern schützt. Unter ihren bedrohlichen Seiten hat sich diese am zeitigsten angekündigt. Sie steht im Ursprung der Detektivgeschichte.

      In Zeiten des Terrors, wo jedermann etwas vom Konspirateur an sich hat, wird auch jedermann in die Lage kommen, den Detektiv zu spielen. Die Flanerie gibt ihm darauf die beste Anwartschaft. »Der Beobachter«, sagt Baudelaire, »ist ein Fürst, der überall im Besitze seines Inkognitos ist.«953 Wenn der Flaneur dergestalt zu einem Detektiv wider Willen wird, so kommt ihm das gesellschaftlich sehr zupaß. Es legitimiert seinen Müßiggang. Seine Indolenz ist eine nur scheinbare. Hinter ihr verbirgt sich die Wachsamkeit eines Beobachters, der den Missetäter nicht aus den Augen läßt. So sieht der Detektiv ziemlich weite Gefilde seinem Selbstgefühl aufgetan. Er bildet Formen des Reagierens aus, wie sie dem Tempo der Großstadt anstehen. Er erhascht die Dinge im Flug; er kann sich damit in die Nähe des Künstlers träumen. Den geschwinden Stift des Zeichners lobt jedermann. Balzac will Künstlerschaft überhaupt an geschwindes Erfassen gebunden wissen954. – Kriminalistischer Spürsinn mit der gefälligen Nonchalance des Flaneurs vereinigt gibt den Aufriß von Dumas’ »Mohicans de Paris«. Ihr Held entschließt sich, auf Abenteuer auszuziehen, indem er einem Fetzen Papier nachgeht, den er den Winden zum Spiel überlassen hat. Welche Spur der Flaneur auch verfolgen mag, jede wird ihn auf ein Verbrechen führen. Damit ist angedeutet, wie auch die Detektivgeschichte, ihres nüchternen Kalküls ungeachtet, an der Phantasmagorie des pariser Lebens mitwirkt. Noch verklärt sie nicht den Verbrecher; aber sie verklärt seine Gegenspieler und vor allem die Jagdgründe, in denen sie ihn verfolgen. Messac hat gezeigt, wie man sich bemüht, dabei Reminiszenzen an Cooper heranzuziehen955. Das Interessante an Coopers Einfluß ist: man verbirgt ihn nicht, man stellt ihn vielmehr zur Schau. In den erwähnten »Mohicans de Paris« liegt die Schaustellung schon im Titel; der Autor macht dem Leser die Aussicht, ihm in Paris einen Urwald und eine Prärie zu öffnen. Das holzgeschnittene Frontispice zum dritten Band zeigt eine bebuschte, damals wenig begangene Straße; die Beschriftung der Ansicht lautet: »Der Urwald in der d’Enfer-Straße«. Der Verlagsprospekt dieses Werkes umreißt den Zusammenhang mit einer großartigen Floskel, in der man die Hand des von sich begeisterten Verfassers vermuten darf: »Paris – die Mohikaner … diese beiden Namen prallen aufeinander wie das Qui vive zweier gigantischer Unbekannter. Es trennt die beiden ein Abgrund; er ist von den Funken jenes elektrischen Lichtes durchzuckt, das seinen Herd in Alexandre Dumas hat.« Féval versetzte schon früher eine Rothaut in weltstädtische Abenteuer. Sie heißt Tovah und bringt es fertig, auf einer Ausfahrt in einem Fiaker ihre vier weißen Begleiter so zu skalpieren, daß der Kutscher nichts davon merkt. Die »Mystères de Paris« weisen gleich zu Beginn auf Cooper, um zu versprechen, daß ihre Helden aus der pariser Unterwelt »nicht minder der Zivilisation entrückt sind als die Wilden, die Cooper so trefflich darstellt«. Besonders ist aber Balzac nicht müde geworden, auf Cooper als auf sein Vorbild hinzuweisen. »Die Poesie des Schreckens, von der die amerikanischen Wälder, in denen feindliche Stämme auf dem Kriegspfad einander begegnen, voll sind – diese Poesie, die Cooper so zustatten gekommen ist, eignet genau so den kleinsten Details des pariser Lebens. Die Passanten, die Läden, die Mietkutschen oder ein Mann, der gegen ein Fenster lehnt, all das interessierte die Leute von Peyrades Leibwache ebenso brennend wie ein Baumstumpf, ein Biberbau, ein Felsen, eine Büffelhaut, ein unbewegliches Canoe oder ein treibendes Blatt den Leser eines Romans von Cooper.« Balzacs Intrige ist reich an Spielformen zwischen Indianer- und Detektivgeschichte. Früh hat man seine »Mohicaner im Spencer« und »Huronen im Gehrock« beanstandet956. Andererseits schreibt Hippolyte Babou, der Baudelaire nahestand, rückblickend im Jahre 1857: »Wenn Balzac … die Mauern durchbricht, um der Beobachtung freie Bahn zu geben …, so horcht man an den Türen …, man verhält sich mit einem Wort … wie unsre Nachbarn, die Engländer, in ihrer Prüderie sagen, als police détective.«957

      Die Detektivgeschichte, deren Interesse in einer logischen Konstruktion liegt, die als solche der Kriminalnovelle nicht eignen muß, erscheint für Frankreich zum ersten Male mit den Übersetzungen der Poeschen Erzählungen: »Das Geheimnis der Marie Roget«, »Der Doppelmord in der rue Morgue«, »Der entwendete Brief«. Mit der Übertragung dieser Modelle hat Baudelaire die Gattung adoptiert. Poes Werk ging durchaus in sein eigenes ein; und Baudelaire betont diesen Sachverhalt, indem er sich solidarisch mit der Methode macht, in der die einzelnen Gattungen, denen Poe sich zuwandte, übereinkommen. Poe ist einer der größten Techniker der neueren Literatur gewesen. Er als erster hat es, wie Valéry bemerkt958, mit der wissenschaftlichen Erzählung, mit der modernen Kosmogonie, mit der Darstellung pathologischer Erscheinungen versucht. Diese Gattungen galten ihm als exakte Hervorbringungen einer Methode, für die er allgemeine Geltung beanspruchte. Genau darin trat ihm Baudelaire zur Seite und im Sinne von Poe schreibt er: »Die Zeit ist nicht fern, da man verstehen wird, daß eine Literatur, die sich weigert, brüderlich vereint mit der Wissenschaft und mit der Philosophie ihren Weg zu machen, eine mörderische und selbstmörderische Literatur ist.«959 Die Detektivgeschichte, die folgenreichste unter den technischen Errungenschaften von Poe, gehörte einem Schrifttum an, das dem Baudelaireschen Postulat Genüge tat. Ihre Analyse macht einen Teil der Analyse von Baudelaires eigenem Werk, unbeschadet der Tatsache, daß von ihm keine solchen Geschichten verfaßt worden sind. Als disiecta membra kennen die »Fleurs du mal« drei von ihren entscheidenden Elementen: das Opfer und den Tatort (»Une martyre«), den Mörder (»Le vin de l’assassin«), die Masse (»Le crépuscule du soir«). Es fehlt das vierte, das dem Verstand erlaubt diese affektschwangere Atmosphäre zu durchdringen. Baudelaire hat keine Detektivgeschichte verfaßt, weil die Identifikation mit dem Detektiv ihm nach seiner Triebstruktur unmöglich gewesen ist. Der Kalkül, das konstruktive Moment stand bei ihm auf der Seite des Asozialen. Es ist ganz und gar in die Grausamkeit eingebracht. Baudelaire ist ein zu guter Leser von Sade gewesen, um mit Poe konkurrieren zu können960.

      Der ursprüngliche gesellschaftliche Inhalt der Detektivgeschichte ist die Verwischung der Spuren des Einzelnen in der Großstadtmenge. Eingehend widmet Poe sich diesem Motiv im »Geheimnis der Marie Roget«, der umfangreichsten von seinen Kriminalnovellen. Gleichzeitig ist diese Novelle der Prototyp der Verwertung journalistischer Informationen bei der Aufdeckung von Verbrechen. Poes Detektiv, der Chevalier Dupin arbeitet hier nicht auf Grund des Augenscheins sondern der Berichte der Tagespresse. Die kritische Analyse ihrer Berichte gibt das Gerüst der Erzählung ab. Unter anderm muß der Zeitpunkt des Verbrechens ermittelt werden. Ein Blatt, der »Commerciel«, vertritt die Ansicht, Marie Roget, die Ermordete, sei unmittelbar nachdem sie die mütterliche Wohnung verlassen habe, beseitigt worden. »›Es ist unmöglich – schreibt er –, daß eine junge Frau, die mehreren tausend Personen bekannt war, auch nur drei Straßenecken weit gekommen wäre, ohne auf einen Passanten zu stoßen, dem ihr Gesicht bekannt war …‹ Das ist nun die Vorstellungsweise eines Mannes, der im öffentlichen Leben steht und seit langem in Paris ansässig ist, der sich im übrigen in dieser Stadt fast immer in der Gegend der öffentlichen Verwaltungsgebäude bewegt. Sein Kommen und Gehen spielt sich in regelmäßigen Fristen in einem beschränkten Sektor ab und in ihm bewegen sich Leute, die Beschäftigungen nachgehen, welche der seinen ähneln; diese Leute interessieren sich daher für ihn, und sie nehmen von seiner Person Notiz. Demgegenüber darf man sich die Wege, wie sie gewöhnlich von Marie in der Stadt beschrieben wurden als unregelmäßig vorstellen. In dem besondern Falle, mit dem wir es zu tun haben, muß für wahrscheinlich gelten, daß ihr Weg von dem üblicherweise von ihr beschriebenen abwich. Die Parallele, von der der ›Commercie‹ offenbar ausging, wäre nur dann statthaft, wenn die beiden in Frage stehenden Personen den Weg durch die ganze Stadt gemacht hätten. Für diesen Fall wären unter der Voraussetzung, daß sie gleich viel Bekannte hätten, die Chancen, auf die gleiche Menge von Bekannten zu stoßen, für sie die gleichen. Ich meinesteils halte es nicht nur für möglich sondern für unendlich wahrscheinlich, daß Marie zu jeder beliebigen Zeit von ihrer Wohnung zu der ihrer Tante einen beliebigen Weg einschlagen konnte, ohne auf einen einzigen Passanten zu stoßen, den sie gekannt hätte oder dem sie bekannt gewesen wäre. Um in dieser Frage zu einem richtigen Urteil zu kommen und sie sachgerecht zu beantworten, muß man sich das ungeheure Mißverhältnis vor Augen halten, das zwischen СКАЧАТЬ