Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ bei Poe heraufführt, so verliert der Detektiv seine Kompetenz, aber nicht das Problem seine Gültigkeit. Es liegt abgewandelt einem von den berühmtesten Gedichten der »Fleurs du mal«, dem Sonett »A une passante« zugrunde.

      La rue assourdissante autour de moi hurlait.

      Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,

      Une femme passa, d’une main fastueuse

      Soulevant, balançant le feston et l’ourlet;

      Agile et noble, avec sa jambe de statue.

      Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,

      Dans son œil, ciel livide où germe l’ouragan,

      La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.

      Un éclair … puis la nuit! – Fugitive beauté

      Dont le regard m’a fait soudainement renaître,

      Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?

      Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être!

      Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,

       O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais! 962

      Das Sonett »A une passante« stellt die Menge nicht als das Asyl des Verbrechers sondern als das der den Dichter fliehenden Liebe dar. Man darf sagen, es handelt von der Funktion der Menge nicht im Dasein des Bürgers sondern in dem des Erotikers. Auf den ersten Blick scheint diese Funktion negativ; aber sie ist es nicht. Die Erscheinung, welche ihn fasziniert – weit entfernt, sich dem Erotiker in der Menge nur zu entziehen, wird ihm durch diese Menge erst zugetragen. Die Entzückung des Städters ist eine Liebe nicht sowohl auf den ersten als auf den letzten Blick. Das »jamais« ist der Höhepunkt der Begegnung, an dem die Leidenschaft, scheinbar vereitelt, in Wahrheit erst als Flamme aus dem Poeten schlägt. In ihr verbrennt er; doch aus ihr steigt kein Phönix. Die Neugeburt der ersten Terzine eröffnet eine Ansicht von dem Geschehen, die im Lichte der vorangehenden Strophe sehr problematisch erscheint. Was den Körper im Krampf zusammenzieht, das ist nicht die Betroffenheit dessen, von dem ein Bild in allen Kammern seines Wesens Besitz ergreift; es hat mehr von dem Chock, mit dem ein gebieterisches Gelüst unvermittelt den Einsamen überkommt. Der Zusatz »comme un extravagant« spricht das beinahe aus; der Ton, der vom Dichter darauf gelegt wird, daß die Frauenerscheinung in Trauer ist, ist nicht danach angetan, es geheim zu halten. Es besteht in Wahrheit ein tiefer Bruch zwischen den Vierzeilern, die den Vorgang dartun, und den Terzinen, die ihn verklären. Wenn Thibaudet von diesen Versen gesagt hat, »daß sie nur in einer Großstadt entstehen konnten«963, so bleibt er an ihrer Oberfläche. Ihre innere Figur prägt sich darin aus, daß in ihnen die Liebe selbst von der Großstadt stigmatisiert erkannt wird964.

      Seit Louis Philippe findet man im Bürgertum das Bestreben, sich für die Spurlosigkeit des Privatlebens in der großen Stadt zu entschädigen. Das versucht es innerhalb seiner vier Wände. Es ist als habe es seine Ehre darein gesetzt, die Spur, wenn schon nicht seiner Erdentage so doch seiner Gebrauchsartikel und Requisiten in Äonen nicht untergehen zu lassen. Unverdrossen nimmt es den Abdruck von einer Fülle von Gegenständen; für Pantoffeln und Taschenuhren, für Thermometer und Eierbecher, für Bestecke und Regenschirme bemüht es sich um Futterale und Etuis. Es bevorzugt Sammet- und Plüschbezüge, die den Abdruck jeder Berührung aufbewahren. Dem Makartstil – dem Stil des ausgehenden Second Empire – wird die Wohnung zu einer Art Gehäuse. Er begreift sie als Futteral des Menschen und bettet ihn mit all seinem Zubehör in sie ein, seine Spur so betreuend wie im Granit die Natur eine tote Fauna. Es braucht dabei nicht verkannt zu werden, daß der Vorgang seine zwei Seiten hat. Der reale oder sentimentale Wert der derart aufbewahrten Gegenstände wird unterstrichen. Sie werden dem profanen Blick des Nichteigentümers entzogen, und insbesondere wird ihr Umriß auf bezeichnende Art verwischt. Es hat nichts Befremdendes, daß die Abwehr der Kontrolle, wie sie den Asozialen zur zweiten Natur wird, im besitzenden Bürgertum wiederkehrt. – Man kann in diesen Gepflogenheiten die dialektische Illustration eines Textes erblicken, der im »Journal officiel« in vielen Fortsetzungen erschienen ist. Bereits 1836 hatte Balzac in der »Modeste Mignon« geschrieben: »Arme Frauen Frankreichs! ihr möchtet wohl gerne unbekannt bleiben, um euren kleinen Liebesroman zu spinnen. Aber wie soll euch das in einer Zivilisation glücken, die auf den öffentlichen Plätzen Abgang und Ankunft der Kutschen verzeichnen läßt, die die Briefe zählt und sie bei der Aufgabe einmal und bei der Auslieferung nochmals abstempelt, die die Häuser mit Nummern versieht und bald das ganze Land bis auf die kleinste Parzelle … in ihren Katastern wird stehen haben.«965 Ein ausgedehntes Kontrollnetz hatte seit der französischen Revolution das bürgerliche Leben immer fester in seine Maschen eingeschnürt. Für das Fortschreiten der Normierung gibt in der Großstadt die Häuserzählung einen brauchbaren Anhalt ab. Die Verwaltung Napoleons hatte sie 1805 für Paris verbindlich gemacht. In proletarischen Vierteln war diese einfache Polizeimaßnahme allerdings auf Widerstände gestoßen; von dem Quartier der Schreiner, Saint-Antoine, heißt es noch 1864: »Wenn man einen der Bewohner dieser Vorstadt nach seiner Adresse fragt, wird er stets den Namen geben, den sein Haus trägt, und nicht die kalte, officielle Nummer.«966 Solche Widerstände vermochten natürlich auf die Dauer nichts gegen das Bestreben, durch ein vielfältiges Gewebe von Registrierungen den Ausfall von Spuren zu kompensieren, den das Verschwinden der Menschen in den Massen der großen Städte mit sich bringt. Baudelaire fand sich durch dieses Bestreben ebenso beeinträchtigt wie irgendein Krimineller. Auf der Flucht vor den Gläubigern schlug er sich in Cafés oder in Lesezirkel. Es traf sich, daß er zwei Domizile zugleich bewohnte – aber an Tagen, an denen die Miete fällig wurde, nächtigte er oft bei Freunden in einem dritten. So trieb er sich in der Stadt herum, welche dem Flaneur längst nicht mehr Heimat war. Jedes Bett, in das er sich legte, war für ihn zu einem »lit hasardeux«967 geworden. Crépet zählt zwischen 1842 und 1858 vierzehn pariser Adressen von Baudelaire.

      Technische Maßnahmen mußten dem administrativen Kontrollprozeß zu Hilfe kommen. Am Anfang des Identifikationsverfahrens, dessen derzeitiger Standard durch die Bertillonsche Methode gegeben ist, steht die Personalbestimmung durch Unterschrift. In der Geschichte dieses Verfahrens stellt die Erfindung der Photographie einen Einschnitt dar. Sie bedeutet für die Kriminalistik nicht weniger als die des Buchdrucks für das Schrifttum bedeutet hat. Die Photographie ermöglicht zum ersten Mal, für die Dauer und eindeutig Spuren von einem Menschen festzuhalten. Die Detektivgeschichte entsteht in dem Augenblick, da diese einschneidendste aller Eroberungen über das Inkognito des Menschen gesichert war. Seither ist kein Ende der Bemühungen abzusehen, ihn dingfest im Reden und Tun zu machen.

      Poes berühmte Novelle »Der Mann der Menge« ist etwas wie das Röntgenbild einer Detektivgeschichte. Der umkleidende Stoff, den das Verbrechen darstellt, ist in ihr weggefallen. Die bloße Armatur ist geblieben: der Verfolger, die Menge, ein Unbekannter, der seinen Weg durch London so einrichtet, daß er immer in deren Mitte bleibt. Dieser Unbekannte ist der Flaneur. So ist er von Baudelaire auch verstanden worden, als er in seinem Guys-Essay den Flaneur »l’homme des foules« genannt hat. Aber Poes Beschreibung dieser Figur ist frei von der Konnivenz, die Baudelaire ihr entgegenbrachte. Der Flaneur ist für Poe vor allem einer, dem es in seiner eigenen Gesellschaft nicht geheuer ist. Darum sucht er die Menge; nicht weit davon wird der Grund, aus dem er sich in ihr verbirgt, zu suchen sein. Den Unterschied zwischen dem Asozialen und dem Flaneur verwischt Poe vorsätzlich. Ein Mann wird in dem Maße verdächtiger als er schwerer aufzutreiben ist. Von längerer Verfolgung abstehend, faßt im stillen der Erzähler seine Erkenntnis so zusammen: »›Dieser alte Mann ist die Verkörperung, ist der Geist des Verbrechens‹, sagte ich zu mir. ›Er kann nicht allein sein; er ist der Mann der Menge.‹«968

      Das Interesse des Lesers wird СКАЧАТЬ