Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ hatte, die die Ordnungspartei damals … besaß, so denkt man sich am besten das Publikum der Comédie Française an einem Tage, wo Racine und Corneille gespielt wird, neben der Volksmenge, die einen Zirkus füllt, in dem Akrobaten halsbrecherische Kunststücke vorführen. Man befand sich gleichsam in einer Kapelle, die dem orthodoxen Ritus der Konspiration geweiht war. Die Türen standen jedermann offen, aber man kam nur wieder, wenn man Adept war. Nach dem verdrießlichen Defilee der Unterdrückten … erhob sich der Priester dieser Stätte. Sein Vorwand war, die Beschwerden seines Klienten zu resümieren, des Volks, das von dem halben Dutzend anmaßender und gereizter Dummköpfe, die man eben gehört hatte, repräsentiert wurde. In Wirklichkeit setzte er die Lage auseinander. Sein Äußeres war distinguiert, seine Kleidung tadellos; sein Kopf war feingebildet; sein Ausdruck still; nur ein unheilverkündender, wilder Blitz fuhr manchmal durch seine Augen. Sie waren schmal, klein und durchdringend; für gewöhnlich sahen sie eher wohlwollend darein als hart. Seine Redeweise war maßvoll, väterlich und deutlich; die wenigst deklamatorische Redeweise, die ich neben der von Thiers je gehört habe.«893 Blanqui erscheint hier als Doktrinär. Das Signalement des habit noir bestätigt sich bis in kleine Dinge. Es war bekannt, daß ›der Alte‹ in schwarzen Handschuhen zu dozieren pflegte894. Aber der gemessene Ernst, die Undurchdringlichkeit, welche Blanqui eignen, sehen anders in der Beleuchtung aus, in welche eine Bemerkung von Marx sie stellt. »Sie sind«, schreibt er von diesen Berufsverschwörern, »die Alchymisten der Revolution und theilen ganz die Ideenzerrüttung und die Bornirtheit in fixen Vorstellungen der früheren Alchymisten.«895 Damit stellt sich Baudelaires Bild wie von selber ein: der Rätselkram der Allegorie beim einen, die Geheimniskrämerei des Verschwörers beim anderen.

      Abschätzig, wie es sich nicht anders erwarten läßt, redet Marx von den Kneipwirtschaften, in denen der niedere Konspirateur sich zuhause fühlte. Der Dunst, der sich dort niederschlug, war auch Baudelaire vertraut. In ihm hat sich das große Gedicht entfaltet, das »Le vin des chiffonniers« überschrieben ist. Seine Entstehung wird man in die Jahrhundertmitte verlegen dürfen. Damals wurden Motive, die in diesem Stück anklingen, in der Öffentlichkeit erörtert. Es ging, einmal, um die Weinsteuer. Die konstituierende Versammlung der Republik hatte ihre Abschaffung zugesagt, so wie sie schon 1830 zugesagt worden war. In den »Klassenkämpfen in Frankreich« hat Marx gezeigt, wie sich in der Beseitigung dieser Steuer eine Forderung des städtischen Proletariats mit der Forderung der Bauern begegnete. Die Steuer, die den Konsumwein in gleicher Höhe belastete wie den gepflegtesten, verminderte den Verbrauch, »indem sie an den Thoren aller Städte über 4000 Einwohner Oktrois errichtet und jede Stadt in ein fremdes Land mit Schutzzöllen gegen den französischen Wein verwandelt«896 hatte. »An der Weinsteuer«, sagt Marx, »erprobt der Bauer das Bouquet der Regierung.« Sie schädigte aber den Städter auch und zwang ihn, um billigen Wein zu finden, in die Wirtschaften vor der Stadt zu ziehen. Dort wurde der steuerfreie Wein ausgeschenkt, den man den vin de la barrière nannte. Der Arbeiter stellte seinen Genuß daran, wenn man dem Sektionschef im Polizeipräsidium H.-A. Frégier glauben darf, als den einzig ihm vergönnten, voller Stolz und voll Trotz zur Schau. »Es gibt Frauen, die keinen Anstand nehmen, mit ihren Kindern, die schon arbeiten könnten, ihrem Mann zur barrière zu folgen … Man macht sich danach halb berauscht auf den Heimweg und stellt sich betrunkener als man ist, damit es in aller Augen deutlich sei, daß man getrunken hat, und nicht wenig. Manchmal tun es dabei die Kinder den Eltern nach.«897 »So viel steht fest«, schreibt ein zeitgenössischer Beobachter, »daß der Wein der barrières dem Regierungsgerüst nicht wenige Stöße erspart hat.«898 Der Wein eröffnet den Enterbten Träume von künftiger Rache und künftiger Herrlichkeit. So im »Wein der Lumpensammler«:

      On voit un chiffonnier qui vient, hochant la tête,

      Buttant, et se cognant aux murs comme un poëte,

      Et, sans prendre souci des mouchards, ses sujets,

      Epanche tout son cœur en glorieux projets.

      Il prête des serments, dicte des lois sublimes,

      Terrasse les méchants, relève les victimes,

      Et sous le firmament comme un dais suspendu

       S’enivre des splendeurs de sa propre vertu. 899

      Lumpensammler traten in größerer Zahl in den Städten auf, seitdem durch die neuen industriellen Verfahren der Abfall einen gewissen Wert bekommen hatte. Sie arbeiteten für Zwischenmeister und stellten eine Art Heimindustrie dar, die auf der Straße lag. Der Lumpensammler faszinierte seine Epoche. Die Blicke der ersten Erforscher des Pauperismus hingen an ihm wie gebannt mit der stummen Frage, wo die Grenze des menschlichen Elends erreicht sei. Frégier widmet ihm in seinem Buche »Des classes dangereuses de la population« sechs Seiten. Le Play gibt für die Zeit zwischen 1849 und 1850, mutmaßlich die, in der Baudelaires Gedicht entstanden ist, das Budget eines pariser Lumpensammlers und seiner Angehörigen900.

      Der Lumpensammler kann natürlich nicht zur Bohème zählen. Aber vom Literaten bis zum Berufsverschwörer konnte jeder, der zur Bohème gehörte, im Lumpensammler ein Stück von sich wiederfinden. Jeder stand, in mehr oder minder dumpfem Aufbegehren gegen die Gesellschaft, vor einem mehr oder minder prekären Morgen. Er konnte zu seiner Stunde mit denen fühlen, die an den Grundfesten dieser Gesellschaft rüttelten. Der Lumpensammler ist in seinem Traum nicht allein. Es begleiten ihn Kameraden; auch um sie ist der Duft von Fässern, und auch sie sind ergraut in Schlachten. Sein Schnurrbart hängt herunter wie eine alte Fahne. Auf seiner Runde begegnen ihm die mouchards, die Spitzel, über die ihm seine Träume die Herrschaft geben901. Soziale Motive aus dem pariser Alltag begegnen schon bei Sainte-Beuve. Sie waren dort eine Eroberung der lyrischen Poesie; eine der Einsicht aber darum noch nicht. Elend und Alkohol gehen im Geiste des gebildeten Privatiers eine wesentlich andere Verbindung ein als in dem eines Baudelaire.

      Dans ce cabriolet de place j’examine

      L’homme qui me conduit, qui n’est plus que machine,

      Hideux, à barbe épaisse, à longs cheveux collés:

      Vice et vin et sommeil chargent ses yeux soûlés.

      Comment l’homme peut-il ainsi tomber? pensais-je,

       Et je me reculais à l’autre coin du siège. 902

      Soweit der Anfang des Stücks; was folgt, ist die erbauliche Auslegung. Sainte-Beuve stellt sich die Frage, ob seine Seele nicht ähnlich verwahrlost sei wie die des Mietkutschers.

      Auf welchem Untergrunde der freiere und verständigere Begriff beruht, welchen Baudelaire von den Enterbten hatte, zeigt die »Abel et Caïn« überschriebene Litanei. Sie macht aus dem Widerstreit der biblischen Brüder den zweier auf ewig unversöhnlicher Rassen.

      Race d’Abel, dors, bois et mange;

      Dieu te sourit complaisamment.

      Race de Caïn, dans la fange

      Rampe et meurs misérablement.903

      Das Gedicht besteht aus sechzehn Zweizeilern, deren Beginn, alternierend, der gleiche ist wie der der vorstehenden. Kain, der Ahnherr der Enterbten, erscheint darin als Begründer einer Rasse, und diese kann keine andere sein als die proletarische. Im Jahre 1838 veröffentlichte Granier de Cassagnac seine »Histoire des classes ouvrières et des classes bourgeoises«. Dieses Werk wußte den Ursprung der Proletarier bekanntzugeben; sie formieren eine Klasse von Untermenschen, die aus einer Kreuzung von Räubern und Prostituierten entstanden ist. Hat Baudelaire diese Spekulationen gekannt? Es ist leicht möglich. Gewiß ist, daß sie Marx, der in Granier de Cassagnac »den Denker« der bonapartistischen СКАЧАТЬ