Schattenkinder. Marcel Bauer
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Название: Schattenkinder

Автор: Marcel Bauer

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783898019002

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СКАЧАТЬ an diese schlimme Erfahrung denken musste, spürte er in der Brust einen undefinierbaren Schmerz. Ansonsten hatte er kaum Erinnerungen an seine frühe Kindheit.

      Aufbruch ins Gelobte Land

      Im Spätsommer 1942 hatte Joshua Rozenberg zur Tarnung den unverfänglichen Namen Pierre Thonnar angenommen. Mit seinem richtigen Namen, der ihn als Juden auswies, hätte er den Krieg schwerlich überlebt. Vom ersten Augenblick an fand er, dass der neue Name ihm wie ein Handschuh saß. Er hat sich so sehr daran gewöhnt, dass er ihn am liebsten für immer gegen seinen alten ausgetauscht hätte. Er gab ihm das Gefühl, ein Junge wie alle anderen zu sein.

      Joshua hatte immer Merkmale und Auffälligkeiten gescheut, die ihn zum Außenseiter oder Sonderling hätten abstempeln können. Wenn die Familie an hohen Festtagen die Synagoge4 aufsuchte, setzte er die Kippa5 erst beim Betreten des Gotteshauses auf, weil er befürchtete, er könne unterwegs einem Klassenkameraden begegnen, der ihn als Juden identifizieren würde.

      Joshua Rozenberg alias Pierre Thonnar wurde am 26. Dezember 1931 im polnischen Lodz als zweiter Sohn der Eheleute Ariel und Elsa Rozenberg geboren.

      An seine frühe Kindheit in Polen erinnert er sich kaum noch. Vermutlich sind die meisten Erinnerungen und Bilder, die noch in seinem Kopf spuken, das Resultat der Erzählungen seiner Eltern. Manches hat er irgendwann aufgeschnappt und so sehr verinnerlicht, dass er glaubt, es selbst erlebt zu haben. Wenn Vater oder Mutter von ihrer polnischen Heimat erzählten, tauchten in seiner Vorstellung belebte Märkte mit fremdartigen Gestalten auf, die lange Bärte und Hüte aus Zobel trugen.

      Lodz war die industrielle Herzkammer Polens. Die Stadt genoss den Ruf eines polnischen Manchester. Nach einer amtlichen Zählung waren mehr als ein Drittel der Einwohner, 230.000 von 670.000, Israeliten. Entsprechend augenfällig und vielfältig war das jüdische Leben: Es gab jüdische Zeitungen, jüdische Schulen, Theater und Sportvereine, Hospitäler und Waisenhäuser. Es gab an die 250 Synagogen.

      Viele Juden kamen aus den umliegenden Dörfern, den sogenannten Schtetl6. Die Suche nach Arbeit und Brot hatte sie in die Stadt gelockt. Mit der Unabhängigkeit Polens strömten auch viele Juden aus Galizien und der Ukraine ins Land, von denen viele Analphabeten waren. Sie lebten in geschlossenen Vierteln: entweder in der Altstadt von Lodz oder in Ghettos wie Brzezinv, Stryków oder Zgierz. Dort prägten orientalisch anmutende Basare das Straßenbild. Die ärmsten Juden wohnten in Baluty, einem Slum, der weder über elektrischen Strom noch über eine Kanalisation verfügte.

      Die Rozenbergs wohnten in Gorna, einem Viertel mit gemischter Bevölkerung: Neben Juden und Polen gab es dort noch viele Volksdeutsche, im Volksmund Schwob oder Szwaby genannt. Zu diesen zählte auch Joshuas Mutter Elsa, geborene Meyer. Sie war die Tochter eines jüdischen Tuchhändlers und einer deutschen Mutter, die ihrerseits von schlesischen Webern abstammte, die im 19. Jahrhundert eingewandert waren.

      Eigentlich hieß sie mit Vornamen Ruth, aber ihre Eltern hatten sie von klein auf Elsa gerufen. Die Meyers waren eine weit verzweigte Familie, die die deutsche Kultur angenommen hatte. Elsa Rozenberg betrachtete sich zwar als Jüdin, war aber nicht sonderlich religiös, was nichts daran änderte, dass sie in allem dem entsprach, was man mit einer »jiddischen Mame« verbindet. Ihr gingen das Wohlergehen und das Glück ihrer Familie über alles.

      Joshua liebte seine Mutter abgöttisch. Sie war ein richtiger Wonneproppen. Er erinnerte sich gerne daran, wie er als kleiner Junge bei Gewitter zu ihr ins Bett gekrochen war und sie ihn dann so fest an ihre gewaltigen Brüste drückte, dass er glaubte, ersticken zu müssen. Als er sie einmal fragte, wozu diese schwabbeligen Dinger eigentlich dienten, strich sie ihm sanft durch die Haare und sagte, dass der Allmächtige die Frauen Israels mit großen Busen ausgestattet habe, damit ihre Kinder ein Ruhekissen hätten, wenn das auserwählte Volk auf seiner langen Wanderung durch die Wüste eine Rast einlegte.

      Ariel Rozenberg, Joshuas Vater, kam aus Ostpolen und stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Er hatte lange um Elsa Meyer geworben. Obwohl sie von kräftiger Statur war, während er eher klein und schmächtig war, hatte sie ihn wegen seines Fleißes und seiner Redlichkeit zuerst schätzen, dann lieben gelernt. Wie es der Anstand verlangte, ließ sie ihre deutsche Herkunft und ihre höhere Bildung nie durchschimmern und ließ ihm in der Öffentlichkeit den Vortritt, obwohl er neben ihr eher wie ein erwachsener Sohn als wie ein Ehemann aussah. Dafür durfte sie in den eigenen vier Wänden nach Gutdünken schalten und walten. Unangefochten schwang sie daheim das Zepter, egal ob es die Form eines Kochlöffels oder eines Staubwedels hatte.

      Nach der Neugründung Polens 1920 hatten viele Volksdeutsche das Land verlassen. Viele kultivierte Juden, die zum aufstrebenden Bürgertum gehörten, schlossen sich ihnen an und zogen nach Berlin, Breslau und in andere deutsche Großstädte.

      Elsa Rozenberg legte großen Wert darauf, dass ihre Söhne eine deutsche Schule besuchten. Erst als diese wie viele andere im Lande auf Druck der polnischen Kulturbehörde schließen musste, wechselte ihr ältester Sohn Menahim auf eine polnische Schule. Das behagte ihm nicht, denn es kam häufig vor, dass er als »niemiecki Zyd«, als deutscher Jude, von seinen Klassenkameraden gehänselt wurde. Von den Lehrern fühlte er sich benachteiligt.

      Die Erziehung der Söhne überließ Rozenberg seiner Frau. Diese bezeichnete ihre Sprösslinge als Beracha, als einen Segen des Allmächtigen. Der Vater griff in die Erziehung nur dann ein, wenn ihm etwas gegen den Strich ging – etwa bei dem Zinnober, das Joshua um seinen Stoffhasen veranstaltete.

      Es missfiel ihm, dass der Junge ihn überall mitnahm, sich angeregt mit ihm unterhielt und ihn wie ein menschliches Wesen behandelte. Der Bursche ist nicht leicht zu handhaben, pflegte der Vater zu sagen, womit er das Plüschtier meinte. Er konnte es nicht lassen, sarkastische Bemerkungen über Joshuas ständigen Begleiter zu machen und allerlei Hasenwitze zu erzählen.

      Einer handelte von einem Hasen, der in einer Apotheke nach Möhren fragt. »Nein, ich habe keine Möhren«, antwortet der Apotheker. Der Hase kommt tags darauf wieder und fragt: »Had du Möhren?« – »Nein, ich habe keine Möhren.« So geht es die ganze Woche, bis der Apotheker am Ende verzweifelt ein Schild an die Tür hängt: »Möhren ausverkauft!« Der Hase macht dem Mann daraufhin Vorhaltungen: »Ich wusste es, du bist ein schäbiger Lügner. Had du doch Möhren gehad!«

      Joshua ließ sich von solchen Hänseleien nicht beeindrucken, aber Roro war jedes Mal beleidigt, weil er es nicht mochte, dass man ihn für blöd hielt. Joshua wunderte sich manchmal, wie eingenommen Roro von sich selbst war. Der Hase ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er etwas Besonderes sei. Angeblich stammte er in direkter Linie von Meister Lampe, dem Stammvater aller Hasen, ab. Er legte Wert darauf, dass Joshua seine einzelnen Körperteile korrekt benannte. Ein Feldhase, belehrte er ihn, habe keine Ohren, sondern Löffel, keine Beine, sondern Sprünge. Statt eines Fells habe er einen Balg, statt Augen Seher. Besonders stolz war er auf seine Hasenscharte, die seine Oberlippe in zwei gleiche Hälften teilte.

      Vater Rozenberg unternahm mehrere Anläufe, um seinen Sohn bezüglich des Hasen zur Räson zu bringen. Als das nichts fruchtete, beschlossen die Eltern, ihn für eine gewisse Zeit aus dem Verkehr zu ziehen.

      Tatsächlich war Roro eines Tages spurlos verschwunden. Die Mutter erzählte, der Hase habe beschlossen, sein eigenes Leben zu führen und sei ausgewandert. Doch Joshua durchschaute das Manöver, durchsuchte das ganze Haus und nörgelte so lange, bis die Mutter schließlich nachgab und den Hasen wieder herausrückte. Nach diesem Vorfall fanden die Eltern sich damit ab, dass ihr jüngster Sohn ein problematisches Verhältnis zu einem blauen Stoffhasen hatte.

      Von den dreieinhalb Millionen Juden in Polen sprachen die allermeisten Jiddisch, was in polnischen Ohren verdächtig deutsch klang. Nach dem Tod des Staatsgründers Józef Piłsudski, der sich um ein gutes Verhältnis zwischen den verschiedenen Volksgruppen bemüht hatte, kam es zu antisemitischen Übergriffen. Die Israeliten wurden СКАЧАТЬ