Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
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СКАЧАТЬ mußte sprechen, wie sehr er sich auch vor Haik jetzt fürchtete:

      »Also ist das wahr, wir werden unsere Leute« (eine intimere Bezeichnung vermied er) »nie mehr sehen?«

      Haik unterbrach seinen figurenhaften Gang nicht. Es dauerte eine Weile, ehe er, wieder auf besseren Boden gelangend, eine Antwort gab. Diese aber glich trotz ihrer christlichen Gewißheit mehr einem Fäusteballen als einem Händefalten:

      »Ich werde die Mutter bestimmt wiedersehen!«

      Es war das erste innere Bekenntnis, das Stephan aus dem Munde Haiks hörte, seitdem er ihn kannte. Da aber der Schüler Pariser Gymnasien diese Glaubensfestigkeit des groben armenischen Gebirgsburschen nicht besaß, wurde er kleinlaut und verlegen:

      »Aber auf den Damlajik können wir doch nicht wieder zurückkommen ...«

      Man merkte es dem sprungbereiten Knurren Haiks an, daß ihm dieses Gespräch herzlich widerstand:

      »Den Damlajik haben wir hinter uns. Wenn Christus es will, kommen wir lebendig nach Aleppo. Dort versteckt uns Jackson im Konsulat. So steht es im Brief ...« Und mit verletzendem Nachdruck ... »Von dir steht freilich nichts in dem Brief.«

      Stephan aber war jetzt ganz und gar nicht mit sich beschäftigt, sondern mit Papa und Mama, die er auf ganz unsinnige Art verlassen hatte; warum, das wußte er jetzt selbst nicht mehr. Seltsam verschob sich das ganze Leben. Der Damlajik wurde zu einer wüsten Phantasie, alles Frühere aber zur eigentlichen, sauberen und wohlbestellten Wirklichkeit. Jackson mußte alles tun, um diesen Unsinn zu korrigieren. Es ging doch wohl nicht an, daß ein Stephan Bagradian in die Lage kam, seine Eltern nicht wieder zu sehen. Er stellte, gewissermaßen schon aus dem Kopf des Konsuls heraus, allerlei Erwägungen an.

      »Jackson wird kabeln. Nach Amerika kabelt man nämlich. Glaubst du, werden die Amerikaner Schiffe schicken, um unsere Leute abzuholen?«

      »Wie soll ich das wissen, Hammel?«

      Haiks beschleunigter Gangart war der Zorn anzumerken. Der eingeschüchterte Stephan mußte seine Seelennot hinabwürgen und sich beeilen, um hinter dem Führer nicht zurückzubleiben. Obgleich kein Wind ging, war es ihm, als brandeten Luftwirbel gegen seine Brust und ließen ihn nicht vorwärtskommen. Er konnte und konnte über diese ganze Geschichte nicht mit sich ins reine kommen. Sein Kopf fing zu schwanken an. Ein starker Atemzug des Mondlichts erfüllte die Welt. Ein smaragdgrüner Strich schwamm auf Stephan zu. Für einen Augenblick verlor er das Bewußtsein der Gefahr aus dem Sinn.

      Der gräßliche Schrei bannte Haik fest. Sofort wußte er, was geschehen war. Schattenhaft kämpfte Stephans Gestalt. Bis zu den Knien war der Bagradiansohn schon eingesunken. Haik zischte:

      »Ruhe! Schrei doch nicht!«

      Doch das unfaßbare Entsetzen zwang diese Schreie immer wieder hervor, deren sich Stephan nicht erwehren konnte. Er glaubte zwischen die walfischartigen Kiefer eines Ungeheuers geraten zu sein, das ihn langsam einsaugte und einschmatzte. Schon schob sich die wulstig zähe Masse über seine Knie. Trotz allem aber war in den Sekunden, in denen er sich wehrte, ein seltsam wohliges Gefühl. Haik kommandierte:

      »Einen Fuß zuerst! Rechts! Rechter Fuß!«

      Kleine Angstlaute ausstoßend, machte Stephan untaugliche Bewegungen. Seine Beine hatten keine Kraft mehr. Er hörte jetzt einen neuen scharfen Befehl:

      »Auf den Bauch legen!«

      Gehorsam beugte er sich vornüber, so daß er das trockene Land mit den Fingerspitzen erreichen konnte. Als Haik sah, daß Stephan die Energie fehlte, sich herauszuarbeiten, schob er sich selbst auf dem Bauch zu der Sumpfstelle hin. Der Stock jedoch, den der Eingesunkene ergriff, genügte auch nicht, um ihm Kraft genug zu geben. Da löste Haik das Gürteltuch, das er um den Kopf geschlungen hatte, und warf es Stephan hin, damit er es mit einem Knoten um seine Brust befestige. Eisern hielt er es auf der andern Seite fest. Es diente als eine Art Rettungsseil. Nach endlosen Versuchen konnte Stephan schließlich das rechte Bein, das nicht allzuweit eingesaugt war, freibekommen. Eine gute halbe Stunde war vergangen, als Haik ihn wie einen Ertrunkenen auf die feste Erde zog. Eine weitere halbe Stunde verging, ehe sich Stephan so weit erholt hatte, um, von Haik nunmehr an der Hand geführt, auf dem tückischen Boden weitertaumeln zu können. Er war bis zur Brust hinauf mit Schlamm bedeckt, der an der Luft rasch trocknete und unter seiner festen Kruste die Haut der Arme und Beine zusammenzog. Ein günstiger Umstand war es noch, daß Stephan seine Schuhe in den Rucksack gesteckt und diesen während des Kampfes mit dem Sumpf weit von sich aufs Trockene geschleudert hatte. Mit festem Griff führte Haik den Halbbewußtlosen. Er schalt ihn nicht wegen seiner Unvorsichtigkeit, sondern wiederholte mehrmals wie eine Beschwörung:

      »Wir müssen bei der Brücke sein, ehe es hell wird. Vielleicht stehn Saptiehs dort ...«

      In dem Bagradiansohn raffte sich noch einmal aller Stolz und Ehrgeiz auf:

      »Jetzt kann ich ... schon wieder gut gehn ...«

      Als sie sich gegen Norden wandten, wurde der Boden sicherer. Das matratzenartige Schwingen hörte auf. Stephan löste sich von Haik und warf seine Beine in scheinstrammem Takt. Aus der Ferne kam ein Wehen und Glitzern. Haiks Sinne spürten den Karu-Su-Fluß. Bald kletterten sie über den Damm auf die Straße, die wie ein breiter Lichtstreif die Nachtwelt erleuchtete. Das Postenhäuschen an der Brücke war leer. Wie vom Teufel gejagt, rannten die Jungen an dieser allergrößten Gefahr vorbei, die nun zum Glück keine war. Diesmal aber wirkte die glatte Heerstraße ganz anders auf Stephan als am Nachmittag. Der geebnete Boden der Zivilisation raubte seinen Gliedern die letzte Kraft. Hinter der Brücke wurde sein Schritt immer stockender. Er begann im Zickzack zu schwanken und legte sich plötzlich mitten auf die Fahrbahn hin. Haik starrte zu ihm nieder. Zum erstenmal zeigte er Verzweiflung:

      »Ich verliere Zeit ...«

      Etwa eine Stunde jenseits der Brücke läuft die Straße auf einem langen hochgebauten Steindamm über den letzten großen Sumpf von El Amk. Der Damm heißt Dschisir Murad Pascha und eröffnet recht eigentlich das große Steppenland, das viele hundert Meilen über Aleppo und den Euphrat hinaus sich bis nach Mesopotamien erstreckt. Nicht weit aber von diesem Damm erhebt sich an der nördlichen Straßenseite die reizendste Hügellandschaft wie eine letzte grüne Herzlichkeit vor Tod und Erstarrung. Am Fuße dieser Hügelwelt liegt ein großes Turkmenendorf, Ain el beda, klare Quelle. Allein schon lange, bevor sich die Siedlungen zu diesem Dorfe zusammenschließen, begegnet die Straße einzelnen Häusern aus Holz und Stein, auffallend blanken Bauerngehöften. Hier hatte vor fünfzig Jahren die Regierung Abdul Hamids einen der turkmenischen Wanderstämme seßhaft gemacht. Niemand gibt einen besseren und strengeren Bauern ab als solch ein bekehrter Nomade. Dies bewiesen die festgebauten und wohlgedeckten Behausungen dieser sanften Gegend.

      Das erste Gehöft lag dicht an der Straße. Eine Stunde nach Sonnenaufgang trat der Besitzer aus der Haustür, prüfte Wind, Wetter, Weltrichtungen und breitete seinen kleinen Teppich aus, um, gen Mekka gewandt, das früheste der fünf täglichen Gebete zu verrichten. Der Fromme bemerkte die beiden Jungen erst, als auch sie, dicht vor dem Haus auf ihren Decken hockend, die vorgeschriebenen Beugungen und Wendungen des Gebetes in der gleichen Vollständigkeit ausführten wie er. Dem Turkmenen gefiel diese frühmorgendliche Inbrunst der Jugend, doch als ruhevoller Moslem dachte er nicht daran, seine langwierige Gottespflicht durch irgendeine profane Frage zu unterbrechen.

      Haik war es mittels vieler Rasten gelungen, Stephan über den Damm Dschisir Murad Pascha bis zur Grenze dieses Hügellandes zu schleppen. Angesichts des Bauernhauses hatte er ihm noch einmal eingeschärft, alles, was er tue, genau nachzuahmen und den Mund so wenig wie möglich zu öffnen, da er nur ein paar türkische Worte spreche und dies СКАЧАТЬ