Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075835543
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»Verbotenes hast du nichts? Kennst du das neue Gesetz? Getreide, Mais, Kartoffeln, Reis, Öl müssen an die Behörde abgeliefert werden.«
»Ich habe meinen Mais schon in Hammam abgeliefert.«
Ein paar Hände begannen die obersten Schichten flüchtig durcheinanderzuwerfen. Stephan fühlte es, ohne Furcht und ohne Mut. Dann zog das matte Pferdchen wieder an. Sie fuhren durch einen Tunnel von schreienden Menschenstimmen im trägsten Schritt. Immer schwächer sickerte das Licht zu Stephan hinab. Es war schon dunkel, als der zweite Anruf erfolgte. Der Turkmene aber hielt jetzt gar nicht an. Eine hohe Stimme keifte hinterdrein: »Was habt ihr da für neue Sitten? Nächstens fährst du am Tag. Verstanden? Wann werden diese Klötze endlich begreifen, daß wir Krieg haben.«
Die Hufe klapperten über die riesigen Steinquadern der Kreuzfahrerbrücke, die aus einer vergessenen Ursache »die Eiserne« genannt wird. Hinter der Brücke befreite der Turkmene den Fiebernden von seinen Lasten. Stephan durfte sich nun wieder, in seine Decke gewickelt, zwischen die Schilfbündel legen. Der Bauer war höchst zufrieden:
»Freu dich, Junge! Nun hast du das Schlimmste hinter dir. Allah meint es mit dir gut. Deshalb werde ich dich auch noch ein Stückchen weiter bis Mengulje bringen, wo ich bei einem Gevatter den Gaul einstellen und übernachten kann.«
Obgleich Stephans Lebensdocht tief herabgeschraubt war, erwies sich die Entspannung jetzt als doch so groß, daß er sogleich in einen schweren Schlaf verfiel. Der Turkmene trieb sein armes Roß noch einmal an, um mit seinem Schützling so schnell wie möglich im Dorf Mengulje zu sein, von wo freilich Stephan noch immer gute zehn Meilen zu laufen hatte, um die Abzweigung ins Dörfertal zu erreichen. Doch die simple Bauernseele hatte die Findigkeit eines armenischen Schicksals bei weitem unterschätzt. Stephan erwachte unter dem scharfen Licht von Karbidlampen und Blendlaternen, die über sein Gesicht hin und her fuhren. Uniformgesichter beugten sich zu ihm herab, Schnurrbarte, Lammfellmützen. Der Wagen war mitten in das Lager einer der Kompanien geraten, die der Wali dem Kaimakam von Antiochia aus der Stadt Killis zu Hilfe gesandt hatte. Die Zelte der Soldaten waren zu beiden Seiten der Straße aufgeschlagen. Nur die Offiziere hatten in Mengulje Quartier genommen. Der Turkmene stand ruhig neben dem Wagen. Vielleicht um seine Bestürzung zu verbergen, begann er das Pferdchen abzuklopfen. Einer der Onbaschis nahm ihn ins Gebet:
»Wohin willst du? Wer ist dieses Bürschlein da? Dein Junge?«
Der Bauer schüttelte versonnen den Kopf:
»Nein, nein! Das ist nicht mein Junge.«
Er suchte Zeit zu gewinnen, um auf einen guten Gedanken zu kommen. Der Onbaschi brüllte ihn an, er möge das Maul auftun. Glücklicherweise kannte der Alte von den verschiedenen Wochenmärkten her die Ortschaften dieser Gegend genau. Nun seufzte er, den Kopf hin und her wiegend:
»Nach Seris fahren wir, nach Seris, das am Fuße der Berge liegt ...«
Er sang diese Worte fast wie ein unschuldiges Lied. Der Onbaschi leuchtete Stephan scharf an. Die Stimme des Turkmenen aber wurde weinerlich:
»Ja, sieh es nur an, das Kind! Nach Hause muß ich es bringen, zu den Seinen, nach Seris ...«
Inzwischen hatte sich eine große Menge von Unteroffizieren und Soldaten um den Wagen versammelt. Der Alte aber schien plötzlich in eine große Erregung zu verfallen:
»O geht nicht zu nahe, geht nicht zu nahe, hütet euch ...«
Der Onbaschi erschrak tatsächlich vor dieser Warnung und starrte den Bauern an, der mit dem Finger auf Stephans Gesicht zeigte:
»Du siehst ja, daß dieses Kind fiebert und nicht bei Sinnen ist. Tretet weg, ihr da, damit die Krankheit euch nicht ergreift. Der Hekim hat den Jungen aus Antakje fortgeschickt ...« Und nun stieß der würdige Turkmene dem Onbaschi das furchtbare Wort geradezu ins Herz: »Fleckfieber!« Nicht einmal die Worte »Pest« und »Cholera« verbreiteten zu dieser Zeit in Syrien ein solches Grauen wie das Wort »Fleckfieber«. Die Soldaten prallten sofort zurück, und selbst der grimmige Onbaschi trat drei Schritte hinter sich. Der treffliche Mann aus Ain el beda hingegen zog nun seine Dokumente aus der Tasche und hielt sie dem Unteroffizier, die Überprüfung heischend, aufdringlich unter die Nase. Dieser verzichtete mit einem Fluch auf sein Amt. Binnen zehn Sekunden lag die Straße frei vor dem Wagen. Der Turkmene, durch den gelungenen Streich außer sich vor Stolz und Vergnügen, überließ das geschundene Rößlein sich selbst und lief kichernd neben Stephan einher:
»Da siehst du, Junge, wie gut Allah es mit dir meint. Hat er es nicht gut mit dir gemeint, daß er dich zu mir geschickt hat? Freu dich, weil du mich gefunden hast! Freu dich! Denn jetzt muß ich mit dir noch eine halbe Stunde weiterfahren, um irgendwo anders zu übernachten ...«
Der große Schreck aber hatte Stephan so gelähmt, daß er von diesen Worten kaum mehr etwas hörte. Als ihn dann später sein Retter aus dem Schlaf rüttelte, konnte er sich nicht rühren. Da nahm ihn der alte Turkmene wie ein kleines Kind in die Arme und stellte ihn auf die Straße, die das Orontesbett entlang nach Suedja führt:
»Hier ist kein Mensch mehr zu sehen, Junge! Wenn du gut läufst, kannst du noch früher als das Licht im Gebirge sein. Allah tut mehr für dich als für andre.«
Der Bauer schenkte Stephan noch ein Stück von seinem Käse, ein Fladenbrot und seine Wasserflasche, die er in Antakje frisch gefüllt hatte. Dann schien er ihm noch einen fromm ermunternden Zuspruch auf den Weg zu geben, der mit dem Friedenswunsch schloß: »Selam alek!« Stephan hörte von alldem nichts, da ein großes Ohrensausen in seinem Kopf umging. Er sah nur, wie der helle Turban und der weißliche Bart sich rhythmisch bewegten und beide, Turban und Bart, mit immer lebhafterem Leuchten die Finsternis durchdrangen. Wie leid tat es dem Bagradiansohn um diese milden Lichtquellen, als der stolpernde Hufschlag sich schon entfernte. Der verschwindende Wagen besaß keine Laterne, und der Mond war noch nicht aus den Schluchten des Amanus gestiegen.
Ter Haigasun hatte an das Friedhofvolk der Dörfer Botschaft gesandt, zum erstenmal wohl seit seiner Amtsführung. Er forderte in dieser Botschaft von Nunik und den Ihren, sie möchten sich in der Umgebung des Musa Dagh auf die Suche nach Spuren des verschwundenen Bagradiansohnes machen. Gelänge es ihnen, wichtige Erkundungen oder gar den Flüchtling selbst einzubringen, ward ihnen ein hoher Lohn in Aussicht gestellt. Man würde ihnen abseits von der Stadtmulde einen Lagerplatz anweisen. Ter Haigasun handelte äußerst klug, indem er einen solchen Preis auf die Entdeckung Stephans aussetzte. Gabriel Bagradian war der wichtigste Mann auf dem Damlajik. Von der geistigen und seelischen Verfassung des obersten Kriegsbefehlshabers hing die ganze Zukunft ab. Alles mußte geschehen, damit die innere Kraft Gabriels, die durch Juliette den ersten schweren Stoß erhalten hatte, durch das Geschick Stephans nicht völlig gebrochen werde. Der Preis, der diesem Bodensatz der Bevölkerung winkte, war ungeheuer. Und doch hegte Nunik kaum eine Hoffnung, ihn zu gewinnen. Seit dem letzten großen Siege der Armeniersöhne hatte sich die Lage der im Tal Zurückgebliebenen grausam verschärft. Neue Truppen, neue Saptiehs, neue Freischaren trafen fast täglich in den Dörfern ein. Alle Vorkehrungen zu einer straffen Belagerung des Damlajiks wurden getroffen. In Stellvertretung des Kaimakams hatte der sommersprossige Müdir in der Villa Bagradian seinen Regierungssitz aufgeschlagen. Auch der verwundete Jüsbaschi befand sich seit zwei Tagen bereits auf dem Wege der Besserung. Der Müdir hatte in allen Dörfern der Umgebung einen Befehl anschlagen lassen, laut dessen jeglicher Muselman verpflichtet war, jedes armenische Wesen, das ihm vor Augen komme, kurzerhand zu verhaften, und sei es auch ein Bettler, ein Blinder, ein Siecher, ein Irrer, ein Krüppel, ein Greis oder Kind. Dieser sinnreiche Befehl verfolgte den Zweck, alle Spionentätigkeit zugunsten des Berglagers im Tale unmöglich zu machen. Der Anschlag klebte СКАЧАТЬ