Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075835543
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»Du hast recht, Platz ist genug. Niemand kann dich hindern ...«
Hagop aber raffte sich zu einem verzweifelten Einspruch auf:
»Was? Ich kann ihn nicht hindern? Christus Erlöser! Ich werde ihn anzeigen!«
Nichts anderes als dieses dumme Wort »anzeigen« brachte die Entscheidung, denn es erregte einen Wutausbruch Haiks. So ernst und groß er auch war, seine Seele beherbergte noch immer die Grundgesetze der Schulbubenmoral, die auf der ganzen Welt gleich sind. Angeberei und Verrat, zu welchem Zweck auch immer verübt, gelten in diesem Gesetz als unsühnbare Verbrechen. Mit der aufrichtigsten Herzlosigkeit fuhr Haik den Krüppel an:
»Anzeigen?! Zeig du nur an! Aber vorher werde ich dir dein einziges Bein hier so auseinanderschlagen, daß du nicht einmal mehr nach Hause kriechen kannst.«
Hagop floh entsetzt ein gutes Stück zurück. Er kannte Haik, der seine Drohungen mit starken Fäusten meist verwirklichte. Der Widerstand des Blonden, den er nicht leiden konnte, hatte Haiks tyrannische Natur gereizt und somit die Wendung für Stephan gebracht. Jetzt kam schon eine ganz sachliche Frage:
»Hast du Proviant für fünf Tage? So lange dauert der Weg, das heißt, wenn es gut geht.«
Stephan klopfte großartig auf seinen Rucksack, als sei er für die längste Expedition überreich ausgerüstet. Haik aber prüfte die Tatsachen weiter nicht nach, sondern befahl kurz:
»Marsch jetzt! Zu viel Zeit habe ich schon durch euch verloren.«
Er hatte weder »Marsch zurück« noch auch »Marsch vorwärts« gesagt. Weit schritt er aus, ohne sich um Stephan zu kümmern, der ihm auf den Fersen blieb. Haik nahm den Bagradiansohn demnach nicht mit, sondern duldete ihn nur, da ja in diesen nächtlich unwegsamen Gebirgen tatsächlich »Platz genug« war.
Unschlüssig sah Hagop, wie der Beauftragte und der Ausreißer hinter der nächsten mondgetränkten Höhenwelle verschwanden. Dann brauchte er fast eine Stunde, um in die Stadtmulde heimzuhüpfen. Stephans unsinnige Flucht drückte ihn wie ein Felsblock nieder. Er dachte an den weit harmloseren Streich wegen Iskuhis Bibel und welch schreckliches Ende er fast genommen hätte. Was sollte er tun? In der Hütte seiner Familie schlief schon fast alles. Mit einigen schlafheiseren Worten rügte der Vater den späten Heimkehrer. Ohne sich auszukleiden, warf sich Hagop auf seine Matte und starrte ins Dachgeäst, das den Mond durchsickern ließ wie ein feines Sieb. Er hatte noch keinen Schlaf gefunden, als lange nach Mitternacht Samuel Awakian die ganze Familie weckte. Der arme Junge sagte sogleich alles und führte Gabriel Bagradian, Kristaphor, Awakian und die andern Männer, die Gabriel zu Hilfe gekommen waren, an die Stelle, wo er Haik und Stephan verlassen hatte. Es wurde sogleich eine Streifung nach dem Flüchtling veranstaltet. Bagradian kehrte mit Kework, dem Tänzer, erst gegen Sonnenaufgang unverrichteterdinge zurück, und wie er, so auch die anderen. Der Vorsprung der Knaben war viel zu groß. Auch hatte Haik den ihm vom Führerrat vorgeschriebenen Weg nicht gewählt, sondern sich auf seine eigene untrügliche Witterung verlassen.
Während die Schwimmer, das Kap Ras el Chansir abschneidend, in ruhiger Sicherheit auf den Küstenort Arsus zuwanderten, marschierten die Knaben die ganze Nacht das mühsam unendliche Auf und Nieder des Höhenzuges entlang. Die Aufgabe Haiks lautete, auf dem gefahrlosen Gebirgsrücken so lange zu verbleiben, bis das südliche Ende des Tales von Beilan erreicht sei. Habe er dann bei Kyrk-Chan die Ebene gewonnen, so möge er sich immer in der Nähe der großen Fahrstraße halten, die über Hammam nach Aleppo führt. In den abgeernteten Maisfeldern und auf der verbrannten Steppe werde er während der mondhellen Augustnächte gut vorwärtskommen und im Gefahrfalle Deckung genug finden. Angesichts der großen Stadt aber müsse er sich auf die Heerstraße wagen und auf einen der Bauernwagen springen, die mit Maiskolben oder Süßholz beladen sind. Mit Gottes Hilfe werde er so an den Militärposten der Stadtgrenze vorbeischlüpfen. Was aber auch immer geschehe, der Brief an Mr. Jackson dürfe bei ihm nicht gefunden werden. Haik setzte seinen Weggenossen von dieser Aufgabe genau in Kenntnis und malte grausam die Gefahren und Schwierigkeiten aus, die in der Ebene ihrer warteten. In den menschenlosen Bergen sei alles noch ein Kinderspiel. Nach einstündiger Wanderung etwa senkte sich der Hirtenpfad, den Haik immer unter den Füßen behielt, ohne ihn zu sehen, ins Tal hinab.
Der Beauftragte machte halt und mahnte Stephan:
»So, jetzt hast du noch Zeit, umzukehren. Du kannst dich nicht verirren, überleg es dir! Später wird es nicht mehr möglich sein.«
Stephan machte eine ärgerliche Bewegung. Sein Herz aber war voll von Zweifeln. Die Gründe seines Aufbruchs leuchteten ihm auf einmal nicht mehr ganz ein. Haik wies in die Richtung des Damlajik, wo ein ferner rötlicher Dunst noch immer den Waldbrand bezeichnete:
»Du wirst nicht mehr hinkommen und niemanden wiedersehen ...«
Der Bagradiansohn kam gar nicht dazu, seines wahren Verlangens bewußt zu werden. Er wäre lieber gestorben, ehe er Haik gegenüber sich als schwach gezeigt hätte. In verlegener Scham zog er jene Landkarte aus der Tasche, die früher im Studio seines Onkels Awetis gehangen war. Er tat so, als prüfe er im scharfen Mondlicht ernsthaft den Standort nach. Haik aber, durch diesen »eingebildeten Humbug« erbost, schlug ihm die Karte aus der Hand und verschwendete keinen guten Rat mehr an ihn. Daraufhin beschloß Stephan, dem Hochmütigen zu beweisen, daß er ihm an Marschtüchtigkeit überlegen sei. Er verfiel in eine wild ausgreifende Gangart und spannte alle Muskeln an, um den Gefährten in körperliche Bedrängnis zu bringen. Dieser aber dachte nicht daran, sich von Stephan ein blödsinniges Tempo aufzwingen zu lassen. Gleichmäßig und beinahe gravitätisch schritt er seines Weges. Stephan sah sich zu seinem Schrecken plötzlich allein. Anstatt dem anderen seine Überlegenheit zu beweisen, hatte er den Weg verloren und wäre aus eigener Kraft, so spürte er, dieser Wildnis nicht entkommen. Sein Herz klopfte, doch er wagte es nicht, zu rufen. Als dann nach endlosen Minuten Haiks Gestalt aus einem Buschwall in den Mond tauchte, ohne sich um den Selbständigen zu scheren, da ließ er sich seine beschämende Erfahrung nicht anmerken und schloß sich schweigend dem Stärkeren an. Damit war der Kampf um den Vorrang zwischen diesen beiden für alle Zeiten entschieden. Sie gelangten rasch in das schmale Tal. Rechter Hand von ihnen dehnte sich die große Ortschaft Sanderan. Gott sei Dank, kein Licht brannte dort. Nur eine einsame Menschenstimme näselte eine gepreßte Weise. Es war ein schauriges Gefühl, sich an einer bewohnten Stätte, die den Tod barg, vorbeizudrücken. Die wilden Hunde von Sanderan aber ließen sich nicht täuschen und verfolgten die beiden Armenierjungen weit hinaus über die Bannmeile. Mit unheimlicher Sicherheit fand Haik neuerdings einen Hirtensteig, der nordöstlich ins Gebirge führte. Als sie wieder durch einen dünnen Laubwald gingen, der sich mit dem Mondlicht vollgesogen hatte, überkam Stephan die trunkene Abenteuerfrische der Nacht. Er vergaß alles. Am liebsten hätte er gesungen und gejauchzt. Müdigkeit? Gab es das? Nach Sonnenaufgang hatten sie trotz mehreren Rasten einen Weg von beinahe zehn Meilen zurückgelegt und den Punkt erreicht, wo sich die Gebirge gegen Norden zu in breiten waldigen Terrassen herabsenken. Stephan wäre samt seiner Karte im Leeren gestanden. Haik aber wies scharf in eine bestimmte Richtung:
»Dort müssen wir hin. Beilan!«
Er hatte alles im Gefühl, obgleich er nur ein einziges Mal mit seiner Mutter nach Beilan und Alexandrette gereist, das heißt auf einem Esel geritten war, und zwar auf einem ganz anderen Wege, der Küste entlang. Nun aber meinte er zufrieden, man werde jetzt einen Schlafplatz suchen, eine Mahlzeit halten und sich bis Mittag ausruhen. Der kurze Schlaf müsse ihnen genügen, anders sei es nicht zu machen. Haik brauchte nicht lange herumzuschnuppern, um nicht nur einen schattigen Platz mit gutem Grasboden, sondern auch eine Quelle zu finden. Letzteres war freilich im wasserreichen Umkreis des Musa Dagh СКАЧАТЬ