Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075835543
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»Seid ihr wahnsinnig? Was habt ihr hier zu suchen? Dankt es Christus, dem Erlöser, daß euch der Onbaschi nicht gesehen hat. Gestern haben sie dort unten an der Biegung fünf Armenier erschossen, eine Familie, die nach Alexandrette wollte.«
Haik, wieder völlig Herr seiner selbst, setzte dem ehemaligen Raupenzüchter mit gemessener Würde die Mission auseinander, die er vom Führerrat auf dem Musa Dagh empfangen hatte. Melikentz entsetzte sich:
»Die Straße ist bis Hammam voll Inschaat Taburi. Und in Hammam sind gestern zwei Kompanien angekommen, die gegen den Damlajik geschickt werden sollen. Ihr könnt nur in der Nacht an den Sümpfen von Ak Denis vorbeigehen. Aber da werdet ihr hineinfallen.«
»Wir werden nicht hineinfallen, Melikentz«, erklärte Haik mit lakonischer Zuversicht, und dann forderte er den Landsmann auf, ihm den kürzesten Weg in die Ebene zu zeigen. Vahan Melikentz jammerte:
»Wenn sie mich vermissen, wenn ich zu spät einrücke, bekomme ich die Bastonade dritten Grades. Vielleicht erschießen sie mich auch ... Mögen sie mich erschießen! Ihr wißt nicht, Jungens, wie sehr ich darauf spucke. Oh, wäre ich doch mit den Eurigen auf den Musa Dagh gegangen und nicht mit Nokhudian, dem Pastor! Die Eurigen waren gescheit. Christus helfe ihnen! Uns hat er nicht geholfen.«
Vahan Melikentz riskierte wahrhaftig den Tod, um die Jungen auf den Weg zu bringen. Es war übrigens nur eine kurze und ziemlich bequeme Waldstrecke, die sie zu überwinden hatten. Der arme Raupenzüchter redete unausgesetzt, als wollte er eine ganze Ernte verlorener Worte nachholen oder kurz vor seinem Ende noch verschwenden. Er schien weniger Interesse für die Vorgänge auf dem Musa Dagh zu hegen, als den Drang zu empfinden, sein eigenes Schicksal darzustellen. Haik und Stephan erfuhren auf diese Weise einiges davon, was sich mit der Nokhudiangruppe zugetragen hatte. In Antakje waren alle kräftigen Männer ausgesondert und nach Hammam zum Straßenbau geschickt worden. Die Frauen, Kinder, Alten und Kranken mußten euphratwärts wandern. Pastor Nokhudian konnte beim Kaimakam nicht das geringste erreichen. Mit den armenischen Inschaat Taburi aber hatte es eine ganz besondere Bewandtnis. Jede Abteilung bekam ein bestimmtes Straßenstück zugewiesen, das dann und dann fertig sein mußte. Meldete der Onbaschi die Vollendung dieses Pensums, so wurde die Abteilung zusammengetrommelt, in die nächste Waldung geführt und dort von einer eigenen, in dieser Kunst schon höchst routinierten Truppe mit Schnellfeuer umgelegt.
»Unser Straßenstück«, berechnete Melikentz nüchtern, »reicht bis nach Top Boghazi, das sind noch vierzigtausend Schritt. Alles in allem macht das sechs oder sieben Tage, wenn wir geschickt sind. Dann kommen wir an die Reihe. Wenn sie mich also gleich heute erschießen, verlier ich nur sechs, höchstens sieben Tage.«
Trotz dieser einfachen Bilanz jedoch entfernte sich Vahan Melikentz, als er die Knaben in die Richtung gebracht hatte, mit atemlos großen Sprüngen. Sechs Tage grauenhaften Lebens waren trotz allem sechs Lebenstage. Beim Abschied ließ er einen Klumpen türkischen Honigs in Haiks Hand zurück, den ihm eine mitleidige Muselmanin geschenkt hatte.
Eine rostrote Abenddämmerung war schon eingebrochen, als sie auf der letzten niedrigsten Stufe des Gebirges standen. Vor ihnen dehnte sich die Ebene bis zum Horizont. Sie sahen zu ihren Füßen einen großen See, auf dessen milchig stummer Fläche der schal gefärbte Abend lag. Es war der See von Antiochia, den man auch von gewissen Späherpunkten des Damlajik in der Ferne sehen konnte. Hier aber erschien Ak Denis, das weiße Meer, zum Greifen nah. Die nördliche Küste des Sees war von einer breiten Schilfkrause eingesäumt, in der ein klunkendes und stöhnendes Leben herrschte. Reiher taumelten mit ungeschicktem Flügelschlag aus dem Röhricht, silberne und purpurne; sie kreisten hoch über der Fläche, ihre zierlich abgebogenen Beine gleichsam im Kielwasser des Fluges nachziehend. Dann senkten sie sich wieder langsam zu ihren Brutplätzen hinab. Ein Keil von Wildenten ratterte mit torpedohafter Geschwindigkeit durch die molkige Flut, um auf einer Schilfinsel zu landen. Bis zu den Ohren der Knaben drang der Streit der Rohrspatzen und das menschliche, ja beinahe politische Räsonieren von zehntausend aufgeblähten Riesenfröschen. Der Röhrichtkragen des Ak Denis verlor sich nur allmählich in der Ebene. Weit hinaus waren immer wieder dicke Büschel zu sehen, doch auch Tümpel, blinde Augen, in denen das Weiße zitterte. Im Gegensatz zu der leeren Steppe wirkte das um den See geballte Leben beinahe übertrieben. Er glich einer märchenhaften Tierleiche, an der die buntesten Totenvögel zehrten. Während Stephan nur den See ins Auge faßte, hatte Haiks scharfer Blick sofort die Nomadenzelte entdeckt, die gegen Osten hin verstreut waren, sowie ein paar Pferde, die im rauchigen Nichts kopfhängerisch weideten. Er streckte zielbewußt den Arm aus:
»Dort ist unser Weg. Zwischen der Straße und den Sümpfen. Wenn der Mond herauskommt, gehen wir. Gib deine Flasche her! Ich werde Wasser bringen. Hier ist das Wasser noch gut. Wir müssen viel trinken. Inzwischen kannst du schon schlafen.«
Stephan aber schlief nicht, sondern wartete, bis der Gefährte mit den beiden frischgefüllten Flaschen zurück war. Gehorsam trank er, soviel er nur konnte. Ans Essen dachten sie beide nicht. Haik breitete seine Decke aus, um sich hineinzuwickeln. Stephan aber kroch zu ihm. Die kühle Schlafnachbarschaft des Morgens genügte ihm nicht mehr. Er konnte sein angstvolles Bedürfnis nach Liebe und Freundschaft nicht bezwingen. Und siehe, Haik verstand ihn, Haik war nicht mehr kalt und verschlossen. Haik wies ihn nicht ab. Ja, die trauliche Nähe des Bagradiansohnes schien ihm nicht unwillkommen zu sein. Wie ein älterer Bruder zog er ihn an sich und deckte ihn zu. Die beiden Knaben hielten sich im Schlafe umarmt.
Stephan und Haik betraten die Ebene. Wider allen Erwartens zeigte es sich aber, daß der schluchtenreiche, widerborstige Musa Dagh ein weit bequemeres Marschterrain geboten hatte als dieser weite Plan, der sich El Amk, die Einsenkung, nennt. Der heimtückisch schwingende, mit grünbraunem Grind bedeckte Boden war schon sehr feindselige, gar nicht mehr christliche Erde.
Es gehörte Haiks ganze Sinnenschärfe und fast unmenschliche Naturvertrautheit dazu, diesen Weg zu wagen und überdies noch bei Nacht. El Amk war ja nichts andres als ein Göl, ein Sumpf von etwa zehn Kilometer Länge, dessen Rand haargenau eingehalten werden mußte. Nicht viele Hirten, Bauern und Nomaden gab es, die den Mut zu dieser Abkürzung hatten, um das lange Straßenstück bis zur Kara-Su-Brücke zu ersparen. Eine andere Möglichkeit aber gab es für die Knaben nicht, da Vahan Melikentz ja von Militär, Saptiehs und Inschaat Taburi berichtet hatte, die über die ganze Straße verteilt seien. Haik hatte seine Schuhe abgestreift, um den Boden mit nackten Sohlen »besser schmecken« zu können. Stephan folgte seinem Beispiel. Er hatte es bekanntlich schon längst aufgegeben, sich durch eigene Leistungen hervorzutun. Sie liefen wie auf einer sehr dünnen, sehr warmen Brotrinde, unter welcher die Schmolle gärte. Diese Rinde war überall rissig, und aus den Rissen stieg ein dicker schwefelhaftiger Brodem empor. Stephan zeigte sich klug genug, in Haiks Fußstapfen zu bleiben, der mit angespannter Aufmerksamkeit die Beine setzte, einem Tänzer gleich, der genau vorgeschriebene Figuren auszuführen hat. Während dieses Tanzes begannen wirre Gedanken in seinem Kopf zu schaben und zu kratzen:
»Alle Menschen gehen auf der Straße. Warum dürfen wir nicht auf der Straße gehen? ... Warum sind wir überhaupt Armenier?«
Haik fuhr ihm zornig über den Mund:
»Frag nicht so blöd! Paß lieber auf! Wo es grün ist, da tritt nicht hin! Verstanden?«
Da versuchte Stephan wieder in den guten Stumpfsinn zu verfallen, der am besten körperliche Mühsal ertragen hilft. Er tanzte getreulich hinter Haik einher, der auf der gefährlichen Rinde einen Weg voll sonderbarer Kurven beschrieb. So ging es eine Stunde, zwei Stunden, während welcher der Mond bald gutmütig hervorkam, bald bösartig verschwand. Dennoch nahm aber trotz des Riesenweges, den sie hinter sich hatten, Stephans Erschöpfung mit der fortschreitenden СКАЧАТЬ