Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
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СКАЧАТЬ im abnehmenden Mond, der durch keine Rauchwehe mehr zerlöst war, saß die Witwe Schuschik aufrecht. Die langen Beine der Kaukasierin in den ausgebreiteten Röcken bedeckten mitsamt ihrem mondgroßen Schatten ein gutes Erdstück des Musa Dagh. Haik aber, der Sohn, selbst knochig und groß, hatte sich in die Mutter eingewühlt wie ein Säugling. Er saß ihr halb und halb auf dem Schoß und hielt den Kopf an ihre Brust gepreßt. In dem marmornen Licht hätte man glauben können, die Frau habe ihre Brüste entblößt, um dieses schon erwachsene Kind noch einmal von ihrem Blute trinken zu lassen. Haik, der kalte, höhnische Armenierjunge, schien in der Mutter ganz und gar verschwinden zu wollen. Sein Atem ging kurz und schluchzend. Hier und da entrangen sich auch dem Munde der Riesin gestockte Jammerlaute, wenn sie den Körper dieses hingeopferten Kindes abtastete. Stephan stand ganz umpanzert von Schmerzlichkeit in seinem Versteck. Er schämte sich seiner Zeugenschaft und konnte doch nicht genug davon bekommen. Als Haik aber plötzlich aufsprang und der Mutter hochhalf, da ging es Stephan wie ein Schnitt durch den eigenen Körper. Der Sohn der Witwe Schuschik sagte noch ein paar trocken mahnende Worte und zum Schluß nur mehr: »Jetzt aber geh!«

      Die ungeschlachte Schuschik gehorchte sofort, ohne sich und den Jungen noch einmal der Qual der Umarmung zu unterwerfen. Mit unbeholfener Eile schritt sie dahin, um nur rasch ein Ende zu machen. Haik sah ihr regungslos nach. Wenn sie sich umwandte, verzerrte er sein Gesicht, erhob aber die Hand nicht zum Wink. Als Schuschiks großer Schatten verschwunden war, seufzte er glücklich auf und machte sich langsam auf den Weg. Stephan wartete an seinem Ort, um Haik einen kleinen Vorsprung zu lassen. Der Gefährte sollte den Abschied vergessen haben, ehe er zu ihm stieß. Doch der junge Bagradian hatte nicht mit Hagop gerechnet. Der blondhaarige Krüppel, der »Bücherleser«, ein feiner Junge, war den ganzen Tag lang seine Gewissensbisse Stephans wegen nicht losgeworden. Auch er hatte seinen Freund verhöhnt. (Die Niedrigen, die Verfemten, zu denen auch die Krüppel gehören, können sich nur selten des schadenfrohen Triumphes erwehren, wenn ein Wohlgeborener, und sei es auch ihr Freund, zu ihnen hinabgestoßen wird.) Hagop hatte es zwar versucht, seinen Verrat bei der Verfolgung Stephans durch die Horde wiedergutzumachen. Dies aber genügte nicht mehr. Mehr noch als das Schuldgefühl erfüllten Hagop schwere Sorgen. Er ahnte alles voraus. Mit seiner wilden Gelenkigkeit die Stadtmulde und alle Versammlungsplätze der Jugend um und um hüpfend, hatte er Stephan schon seit Stunden gesucht. Nicht einmal vor dem frechen Wagnis war er zurückgeschreckt, durch einen winzigen Vorhangspalt in Juliette Hanums Zelt zu spähen. Nun bekam er auch dieses seltsam erregende Bild nicht aus dem Kopf: die große weiße Frau aufs Bett gestreckt wie eine Tote und der oberste Befehlshaber, sie bestarrend, als träume er im Stehen. Als aber der Einbeinige dann bei der feierlichen Abfertigung der Boten den Bagradiansohn mit dem Rucksack in seinem Versteck aufgespürt hatte, da wurde die Ahnung zur Gewißheit. Nun klammerte er sich, keuchend vor Anstrengung, an Stephan:

      »Du darfst das nicht tun! Nein! Du mußt hierbleiben!«

      Stephan warf Hagop mit einem rohen Stoß zu Boden:

      »Du bist ein schmutziger Hund! Mit dir habe ich nichts zu schaffen.«

      Gabriels Sohn gehörte nicht zu jenen, welche schnell verzeihen. Hagop aber packte seine Beine:

      »Du gehst nicht! Ich dulde es nicht. Du bleibst hier!«

      »Laß mich los, sonst bekommst du einen Tritt ins Gesicht.«

      Der Krüppel zog sich an Stephan hinauf und zischte verzweifelt:

      »Du mußt ja bleiben! Deine Mutter ist krank. Du weißt es noch nicht ...«

      Auch dies verfing nicht. Stephan stutzte zwar einen Augenblick. Dann aber verzog er den Mund:

      »Ich kann ihr nicht helfen ...«

      Hagop hüpfte zwei Schritte zurück:

      »Weißt du, daß du nie mehr hierher zurückkommen wirst, daß du sie nie mehr sehen wirst ...«

      Stephan starrte eine Weile auf die Erde, dann aber wandte er sich und begann Haik nachzulaufen.

      Hagop ächzte hinter ihm her:

      »Ich werde schreien ... Ich werde alle wecken ... Sie sollen dich einsperren ... Ah, ah, ich schreie ...«

      Und er fing wirklich zu schreien an. Doch seine dünne Stimme reichte nur so weit, um Haik festzuhalten, der noch keine hundert Meter von der Stelle entfernt war. Der Läufer von Aleppo drehte sich um und blieb stehen. Stephan sprang ihm entgegen, Hagop ihm nach, kaum eine Handbreit hinter dem Gesunden zurückbleibend. Damit ihm Hagops Stimme nicht in die Quere komme, rief Stephan noch im Lauf:

      »Haik, ich gehe mit dir ...«

      Der Bote des Volkes ließ die beiden erst ganz nahe kommen. Dann maß er Stephan mit seinen ernsten Augen zwischen halbverkniffenen Lidern:

      »Warum haltet ihr mich auf? Es ist schade um jede Minute.«

      Stephan ballte entschlossen die Fäuste:

      »Ich werde mit dir nach Aleppo gehn!«

      Haik hatte sich einen Stock zurechtgeschnitten. Den hielt er nun wie eine Waffe ausgestreckt, als wollte er verhindern, daß ihm ein Unbefugter zu nahe komme:

      »Der Führerrat hat mich beauftragt, und Ter Haigasun hat mich gesegnet. Du bist nicht beauftragt und gesegnet ...«

      Hagop, den die Gegenwart Haiks stets kleinlaut und etwas liebedienerisch machte, wiederholte mit spitzem Eifer:

      »Du bist nicht beauftragt und gesegnet. Dir ist es verboten!«

      Stephan ergriff das Ende von Haiks Stock und preßte es wie eine Hand:

      »Es ist Platz genug für dich und mich.«

      »Es geht hier nicht um mich und dich, sondern um den Brief, den ich dem Konsul Jackson überbringen muß.«

      Stephan griff triumphierend in die Tasche:

      »Ich habe den Brief an den Konsul Jackson abgeschrieben. Zwei sind besser als einer.«

      Haik stieß den Stock fest auf die Erde, um dem Gespräch ein Ende zu machen:

      »Du willst wieder einmal gescheiter sein als alle.«

      Hagop deklamierte auch diesen Satz getreulich nach. Stephan aber wich um keine Haaresbreite:

      »Tu, was du willst! Platz ist genug. Du kannst es nicht verhindern, daß ich nach Aleppo gehe.«

      »Du aber kannst es dadurch verhindern, daß der Brief in Aleppo ankommt.«

      »Ich laufe nicht schlechter als du!«

      Haiks Stimme nahm den hochfahrenden Ausdruck an, der Stephan so oft schon aus der Fassung gebracht hatte:

      »Also wieder nur Wichtigmacherei?«

      Nach all den schrecklichen Wunden, die ihm dieser Tag zugefügt hatte, war das zuviel für Stephan. Er setzte sich auf die Erde und bedeckte sein Gesicht. Haik aber ließ seiner Verachtung freien Lauf:

      »Der will bis nach Aleppo kommen und wird jetzt schon schlapp.«

      Der Bagradiansohn schluchzte vor sich hin:

      »Ich kann nicht zurück ... Jesus Christus ... Ich ... kann ... nicht ... zurück ...«

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