Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke
Автор: Eduard von Keyserling
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814601
isbn:
»Ja, hm!« sagte Hans, »guten Abend«, und sie gingen weiter.
»Was sagte er?« fragte Doralice ängstlich. Hans zuckte die Achseln. »Verrückt wahrscheinlich. Solche kleinen Ungetüme sind gewöhnlich ein wenig verrückt. Kennst du ihn denn?«
Doralice dachte nach. »Gewiss, ich kenne ihn. Ich erinnere mich, auf einer großen Gesellschaft war es, es war spät, alle waren müde und warteten auf die Wagen. Da saß plötzlich dieser kleine Mann neben mir. Seine Füße reichten nicht an den Fußboden, sondern hingen wie bei Kindern frei vom Stuhle herunter. Er sah mir ganz frech in die Augen, wie man das sonst nicht tut, und sagte: ›Es fällt mir auf, Frau Gräfin, dass jetzt, wo alle schon schläfrig sind, Ihre Augen noch so wach sind; die warten noch.‹ Ich machte wohl ein sehr dummes Gesicht und fragte: ›Worauf?‹ Da lachte er ganz so, wie er jetzt eben lachte, und sagte: ›Nun darauf, dass was geschieht, dass was kommt. O, die geben nicht nach, die stehen auf ihrem Posten.‹ – Mir war das unheimlich, ich war froh, als in dem Augenblick der Wagen gemeldet wurde.«
»Ich weiß nicht, was du noch immer an allen diesen Erinnerungen hast, erquicklich sind sie nicht«, versetzte Hans verstimmt.
»Was kann ich dafür«, verteidigte sich Doralice, »ich habe doch noch keine anderen Erinnerungen, und dann, sie kriechen einem doch überall nach. Da steht der Geheimrat Knospelius plötzlich am Strande, drüben im Bullenkrug zieht die Generalin von Palikow und die Baronin Buttlär ein, auf Schritt und Tritt das alte Leben. Weißt du, was ich möchte? Dort drüben über dem Meer müsste man eine Hängematte aufhängen können, gerade so hoch, dass die Wellen sie nicht erreichen, aber doch so, dass, wenn ich die Hand herabhängen lasse, ich den Wellen in die weißen Bärte fassen kann, und so, siehst du, könnten, glaube ich, keine Erinnerungen kommen und keine Knospelius und Palikows könnten einem begegnen.«
Hans blieb nachdenklich stehen: »Du«, sagte er, »das wollen wir machen.« Er ergriff Doralice, legte sie auf seine Arme: »Lieg«, rief er, »wie ein Kind auf den Armen des Paten während der Taufe«, und nun begann er langsam in das Meer hineinzugehen. Regungslos lag Doralice da und schaute hinauf in den Himmel, der bleich von Mondenschein war. Das Wehen, das vom Meere kam, das Rauschen unter ihr, das goldene Fließen und Flimmern ringsumher, all das schien sie zu wiegen und zu schaukeln, und dann war es ihr, als fiele sie, fiele sie in einen Abgrund von Licht, das sie dennoch trug und hielt.
»So, so, weiter, weiter, jetzt sind wir ganz bei ihnen, mitten unter ihnen, das dumme Land ist fort.« Doralice sprach mit einer Stimme, wie Schlafende es tun, lachte ein leises, ganz helles Lachen wie Kinder, die auf einer Schaukel sitzen. Sie ließ ihre Hand herabhängen, griff in den Schaum der Wellen, schnalzte mit den Fingern, als wollte sie kleine Hunde springen lassen. »Wie sie zu mir heraufwollen«, rief sie, »kommt, kommt, nein, das ist zu hoch.« Hans stand bis über die Knie im Wasser und lächelte, das Gesicht rot vor Anstrengung. Aber allmählich wurde er müde, es war nicht leicht, sicher im Wasser zu stehen, und langsam zog er sich an das Ufer zurück. Mit einem befriedigten: »So, das war eine Leistung«, setzte er Doralice auf den Sand zurück. Sie schwankte ein wenig auf ihren Füßen wie berauscht, sie legte die Hand auf die Augen, alles um sie her schien noch sacht zu schwanken. Sie musste sich an Hans anlehnen. »Du siehst«, sagte sie, »ich vertrage dies dumme Land nicht mehr.«
»Das kommt noch«, meinte er, »das Land wird uns jetzt sehr gut schmecken. Eine warme Stube und Rotwein, ich bin nass und mich friert.« – »Ja, gehen wir«, sagte Doralice kleinlaut, »wir gehören ja doch nicht zu denen dort. Aber wie stark du bist, dass du mich so halten konntest.«
»Nicht wahr«, erwiderte Hans stolz, »und weißt du, wie ich dich so hielt, wenn ich denke, das war eigentlich symbolisch, mitten in den Wellen, und ich halte dich.«
Aber Doralice sagte müde: »Ach nein, lass es lieber nicht symbolisch sein.«
Hans schaute sie verwundert an und murmelte dann ein wenig empfindlich: »Nun dann auch nicht.«
Um den Hof des Wardeinschen Anwesens standen die niedrigen strohgedeckten Häuser, der Schuppen, der Stall, der Speicher, in dem jetzt die Familie des Fischers wohnte, und das Wohnhaus, das Hans Grill gemietet hatte. Hier schien die Hitze des Tages noch eingeschlossen zu sein, die Luft war schwer von den Gerüchen des Strohs, der an Schnüren trocknenden Fische und feuchter Netze. Man hörte durch die kleinen geöffneten Fenster den Atem schlafender Menschen, irgendwo schlug ein Hahn auf seiner Stange mit den Flügeln und im Schuppen grunzte ein Schwein im Traum. Und hier fiel von Doralice der Rausch der Weite und des Lichtes ab, ganz jäh, es schmerzte fast körperlich, und als sie durch die Tür traten, die so niedrig war, dass Hans sich tief bücken musste, sagte Doralice klagend: »So schlüpfen wir denn auch in unser Loch.« – »Ja, ja«, meinte Hans eifrig, »das wird gut tun.« In dem kleinen Wohnzimmer brannte eine Petroleumlampe auf dem Tisch, und es fiel Doralice auf, wie hässlich unrein dieses Licht war, mit welch schläfriger Alltäglichkeit es den weißgetünchten Raum füllte. Hans war ganz geschäftig. »Köstlich, köstlich«, sagte er, »setz’ du dich dort in den Korbstuhl, ich bin gleich wieder da.« Er verschwand, kam dann in weichen Filzschuhen zurück, ging ab und zu, holte Gläser, den Rotwein, schenkte die Gläser voll, setzte sich endlich Doralice gegenüber an den Tisch, rieb sich die Hände und lachte über das ganze Gesicht. Er sah sehr jung aus, das Gesicht von der Luft gerötet und der Bart und das kurzgelockte Haar honiggelb, die braunen Augen blinzelten blank vor Freundlichkeit. »Köstlich«, wiederholte er, »das nenne ich eine Lebenslage, man sitzt so beieinander und die Lampe brennt, man hat seinen Rotwein und dazu sein wunderschönes Weib.«
Doralice lehnte sich in ihren Korbstuhl zurück und schloss die Augen. »Ach«, sagte sie müde, »nenne mich, bitte, nicht Weib, das klingt so, ich weiß nicht, nach losen blauen Jacken mit weißen Punkten und Kartoffelsuppe.«
Hans errötete: »Nein, nein«, sagte er, »also nicht Weib. Weib ist ein schönes deutsches Wort, aber wie du willst, bitte.«
Sie schwiegen beide eine Weile. Aus dem Nebenzimmer hörte man deutlich das Schnarchen der alten Agnes, einer fernen Verwandten von Hans Grill, die ihm jetzt die Wirtschaft führte. Agnes hatte eine seltsame, kummervolle und missmutige Art des Schnarchens. Am Tage versah sie still und pünktlich ihren Dienst, aber das alte Gesicht, in dem die Fältchen wie Sprünge in einem gelben Lack standen, trug stets den Ausdruck einer geduldigen, hochmütigen Ergebenheit. Jetzt schien es Doralice, als käme mit den verschlafenen Lauten alle Bitterkeit heraus, welche die Alte СКАЧАТЬ