Название: Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache
Автор: Almut Hille
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: narr Studienbücher LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFT
isbn: 9783823302193
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Neben den verschiedenen Akteuren des Literaturbetriebs bieten auch die philologischen Wissenschaften Orientierung mit ihren Nachschlagewerken, Fachzeitschriften und anderen Publikationen: Zu nennen wären etwa das Kritische Lexikon der Gegenwartsliteratur (KLG) und der fremdsprachigen Gegenwartsliteratur (KLfG), die als lose Blattsammlungen kontinuierlich erweitert und aktualisiert werden und auch online einsehbar sind. Lektürevorschläge bietet auch die Rubrik Lektürespuren in der Zeitschrift Zielsprache Deutsch, die damit als einzige der Fachzeitschriften für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Gegenwartsliteratur explizit als einen ihrer Gegenstandsbereiche wählt. Seit Heft 1/2011 wird in jeder Ausgabe eine literarische Neuerscheinung auf zwei bis drei Seiten kommentiert; so ist inzwischen ein Fundus von über dreißig Texten entstanden. Auch in Publikationen im Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, in den Fernstudieneinheiten sowie in Lehrwerken und Materialsammlungen finden sich literarische Texte und Hinweise auf literarische Texte. Es fragt sich, ob solche Sammlungen in ihrer Heterogenität kanonisierende Funktion haben. Hier sollen sie allenfalls als unverbindliche Lektüreempfehlungen verstanden werden, keinesfalls als Literatur- oder Lektürekanon, die Ackermann (2001) wie folgt bestimmt:
Zu unterscheiden ist […] einerseits der Typ des Literaturkanons als ‚heimlicher Kanon‘, der, obwohl nicht greifbar vorliegend, das wissenschaftliche und gesellschaftliche Bewusstsein von Literarizität bestimmt und kulturelle Identität prägt, andererseits der Typ des Lektürekanons, in dem für die jeweiligen Adressaten und für bestimmte Ziele (Studiengänge und Lehrpläne, Prüfungsanforderungen, Bildungsansprüche) Literaturlisten als verbindliche Lektürelisten oder Lektüreempfehlungen (z. B. ‚Die hundert besten Bücher‘) aufgestellt werden. (ebd.: 1347, Hervorh. i.O.)
Auch Ralf Klausnitzer präsentiert in seiner Einführung Literaturwissenschaft (2012), die sich vorrangig an Studierende richtet, auf zwölf Seiten Lektüreempfehlungen für das Studium der germanistischen Literaturwissenschaft; die Liste „impliziert“ jedoch „keinen Kanon, sondern soll Anhaltspunkte für die Auswahl eigener Lektüren bieten“ (ebd.: 438). Chronologisch und nach Jahrhunderten geordnet bietet er eine Liste mit Titeln zur älteren deutschen und zur neueren deutschen Literatur, die für das 21. Jahrhundert u.a. Lutz Seilers Gedichtband Pech und Blende (2000) und Terézia Moras Roman Alle Tage (2004) enthält und mit den Romanen Die Vermessung der Welt (2006) von Daniel Kehlmann (→ Kap. 6) und Der Turm (2008)1 von Uwe Tellkamp endet.2
Will man Fragen des Kanons und der Kanonisierung mit Lernenden reflektieren, kann man auch auf literarische Texte zurückgreifen, die selbst – explizit oder implizit – Kanonisierungsprozesse beobachten. So schlägt Wolfgang Hallet (2004: 227) für den fremdsprachlichen Englischunterricht die Arbeit mit Nick Hornbys Roman High Fidelity (1995) vor, dessen Protagonist Rob Fleming fortlaufend ‚bedeutsame‘ Texte, d.h. Popsongs für seine top five lists zusammenstellt. Damit tritt er auch „in einen Diskurs darüber ein, ob und warum ein bestimmter Text in einer bestimmten Weise kanonisiert werden, also Aufnahme in das kulturelle Archiv einer Gesellschaft finden soll“ (Hallet 2004: 226f.).3
Textbeispiel
Der Protagonist Christian Hoffmann in Uwe Tellkamps Bildungsroman Der Turm (2008) dagegen erspart sich den Umweg der Reflexion und des selbstbestimmten Auswählens. Auf dem Bildungsweg bzw. dem ‚Weg des Paukens‘, den er sich selbst als 17-jähriger Gymnasiast im Internat Waldbrunn im Erzgebirge verordnet hat, zählt er eine ganze Reihe an literarischen Texten von Mark Twain und Jules Verne über Goethe und Thomas Mann zu Tolstoi und Dostojewski auf, die es zu lesen gelte für das Ziel, ein „großer Mensch“ zu werden (Tellkamp 2008: 152ff.), vor allem aber fokussiert er auf die Quantität, nimmt sich die tägliche „Lektüre von mindestens einem Kapitel Weltliteratur“ (ebd.: 153) vor, „500 Seiten mußten es an freien Tagen sein“ (ebd.: 155). Selbstverständlich und unhinterfragt erscheint ihm, welche Bücher man gelesen haben müsse, sein Lesen ist eine unreflektierte Fortführung des Kanonisierungsprozesses, kein selbstbestimmtes Reflektieren über die persönliche Lektüre bereits kanonisierter oder nicht-kanonisierter Texte.
Weit entfernt von solchen quantitativen Eskapaden ist der Internatsschüler in Rosenheim im Alpenvorland, der 16-jährige Benjamin, der in dem Roman Crazy (1999) von Benjamin Lebert mit seinen Freunden eines Abends unerlaubt das Internat verlässt. Auf der gemeinsamen Zugfahrt nach München liest er ihnen aus Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer (1952) vor. Die Schüler sind begeistert, räsonieren über ihr eigenes Leseerlebnis und darüber, was gute Literatur ausmache. Dabei wird klar, dass sie selbst bisher überhaupt nur ein oder zwei Bücher gelesen haben.
Beide – Christian und Benjamin – sind nicht innovativ, sie orientieren sich am Kanon und schreiben ihn fort, ohne sich der Prozesse bewusst zu werden, in die sie mit ihrem Lesen involviert sind. Und – so könnte man fortfahren – indem wir diese Texte lesen, werden auch wir als Lesende in die weitere Kanonisierung der in den Romanen genannten Texte involviert.
Ein solcher Prozess lässt sich als invisible hand-Phänomen verstehen, wie es von Simone Winko für die Bildung eines Literatur-Kanons beschrieben wird (Winko 2002: 11):
Niemand hat ihn absichtlich so und nicht anders zusammengesetzt, dennoch haben viele ‚intentional‘ an ihm mitgewirkt. […] Er resultiert aus zahlreichen einzelnen Handlungen (Mikroebene), die jede für sich einen anderen Zweck haben als den, einen Kanon zu bilden, und die unter Ausnutzung allgemeiner Prämissen einen Prozess in Gang gesetzt haben, der ihn (auf der Makroebene) dennoch entstehen lässt.4
Man könnte das auch kritisch (oder affirmativ) auf den vorliegenden Band beziehen – auch er kann sich diesem Prozess nicht ganz entziehen. Bei einer ‚kanonsensiblen‘ Lektüre wird außerdem sichtbar, dass sich im Kontext Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in der fachwissenschaftlichen Diskussion wie in der unterrichtlichen Praxis eine Art ‚heimlicher Kanon‘ gebildet hat. So werden in den verschiedenen Kapiteln dieser Einführung einige Texte immer wieder auftauchen, weil sie im Fach häufig für konzeptionelle Überlegungen sowie didaktische und methodische Vorschläge herangezogen werden. Das ist zunächst Goethes Wandrers Nachtlied (→ Kap. 6),5 ebenso Franz Kafkas Gibs auf! (→ Kap. 6, 8, 20),6 und Yoko Tawadas Von der Muttersprache zur Sprachmutter (→ Kap. 18).7 Ähnliche Texte sind Günter Eichs Inventur (→ Kap. 6)8 und Erich Kästners Als ich ein kleiner Junge war (→ Kap. 10).9 Zunehmende Aufmerksamkeit erhält auch Wolfgang Herrndorfs Tschick (→ Kap. 18, 13).10 Peter Bichsels Die Tochter11 gehört ebenso wie Texte der Konkreten Poesie seit über dreißig Jahren zum Repertoire von Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache, ebenso häufig sind Texte wie Erich Kästners Sachliche Romanze, Wolfgang Borcherts Das Brot, Bertolt Brechts Die unwürdige Greisin, Heinrich Bölls Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral, Federica de Cescos Spaghetti für zwei oder Märchen wie Rotkäppchen zu finden. Insbesondere in den Kapiteln 6, 7 und 8 unserer Einführung, die eine auch historische Perspektive auf das Fach werfen, und in Kapitel 20 wird deutlich, wie in verschiedenen Materialsammlungen, Lehrwerken und Fernstudieneinheiten immer wieder ähnliche Texte verwendet werden. Wie Irena Samide (2020) zugespitzt formuliert, „werden über Jahrzehnte meist die gleichen Texte herangezogen, so scheint sich in der Praxis ein Kanon für den DaF-Unterricht herausgebildet zu haben“ (ebd.: 167). Samide weist insbesondere auf lyrische Texte hin, allen voran Gedichte der Konkreten Poesie wie von Ernst Jandl (→ Kap. 6, 7), aber auch Liebesgedichte von Erich Fried und „Unterrichtsklassiker wie Goethes Erlkönig oder Heinrich Heines Lorelei“ (ebd., Hervorh. i.O.). Auch Gedichte von Robert Gernhardt sind häufig zu finden. In ähnlicher Weise wird ein ‚Filmkanon‘ sichtbar – zu ihm gehören Filme wie Schwarzfahrer (1992, R: Pepe Danquart), СКАЧАТЬ