Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Almut Hille
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СКАЧАТЬ vs. hohe Literatur

      Gebrauchsliteratur vs. Dichtung

      verschüttete und unterdrückte Literatur vs. etablierte Literatur (vgl. Eggert 1995: 199f.).

      Von ‚einem‘ Kanon wird dabei kaum gesprochen, haben die literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Debatten seit den 1970er Jahren doch einerseits zu verschiedenen Erweiterungen eines traditionellen (Bildungs-)Kanons und andererseits zu einer äußerst kritischen Reflexion des Kanon-Begriffs an sich geführt. Erst in jüngerer Zeit scheinen Kanon-Debatten wieder eine Konjunktur zu erleben. In ihrem Mittelpunkt steht die Frage, was Literatur im digitalen Zeitalter eigentlich sei und welche Bedeutung sie haben könne (→ Kap. 1). Einem literarischen Kanon wird dabei eine mögliche Orientierungs-, Ordnungs- und (Be-)Wertungsfunktion in der Menge der in verschiedenen medialen Formaten edierten Texte zugeschrieben.

      Was sich hier in aller Kürze zusammengefasst findet, ist das Ergebnis eines langen Prozesses (vgl. zur folgenden Skizze Ackermann 2001: 1346–1350, Ewert 2010: 1555–1560, Winko 2013: 363):

      Anfänge

      Der Begriff „Kanon“ selbst (griech.: Regel, Maßstab, Richtschnur; urspr. Schilfrohr, Messrute) ist bereits in der Antike bekannt, auch die damit bezeichnete Vorstellung eines Gemeinsamen und Verbindlichen. So wurde er verwendet, um eine Sammlung von Regeln eines Fachgebiets, eine Sammlung von Texten oder auch bestimmte Ziel- und Idealvorstellungen zu bezeichnen und implizierte von Anfang an die Dimension des Normativen (vgl. Ackermann 2001: 1346, Ewert 2010: 1555). Im 2. Jahrhundert vor Chr. fanden sich im griechisch-römischen Bereich auch bereits Listen mit Namen von wichtigen Autoren – Dichtern, Rednern, Philosophen, Historikern –, die als Vorbilder galten.

      Theologie als Vorbild

      War das Kanonkonzept später zunächst vor allem in der Theologie produktiv aufgenommen worden – als Zusammenstellung der Texte, die für den christlichen Glauben als verbindlich galten – legte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Pierre-Daniel Huet (1630–1721), Bischof von Avranches, eine Sammlung von Weltliteratur vor, die als der erste moderne Kanon gelten kann. Zunächst unter dem Titel Traité de l’origine des romans erschienen, wurde sie zwar ins Deutsche übersetzt, fand aber wenig Aufmerksamkeit. Eine Zusammenstellung von klassischen griechischen und lateinischen Texten, die der Göttinger Altphilologe und Pädagoge David Ruhnken (1723–1798) im 18. Jahrhundert als Schulkanon zusammenstellte, war dagegen erfolgreich.

      Materialer Kanon und Deutungskanon

      Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts spricht man von einem literarischen Kanon, als der „gewöhnlich ein Korpus literarischer Texte bezeichnet [wird], die eine Trägergruppe, z. B. eine ganze Kultur oder eine subkulturelle Gruppierung, für wertvoll hält, autorisiert und an dessen Überlieferung sie interessiert ist“ (Winko 2013: 363). Dabei stehen ein materialer Kanon, eben dieses Korpus literarischer Texte, und ein Deutungskanon, ein Korpus von Interpretationen, in dem aufgehoben ist, welche Deutungen und Wertvorstellungen mit den kanonisierten Texten verbunden werden können, nebeneinander (ebd.). Beide sind z. B. für den Prozess der Nationenbildung im 19. Jahrhundert, für die Implikation einer Identifikation mit der Nation bzw. mit dem (neuen) Nationalstaat relevant.

      Nationale Literaturgeschichtsschreibung und bildungsbürgerliche Vorstellungen

      Im 19. Jahrhundert entwickelten sich mit der nationalen Literaturgeschichtsschreibung und der Herausbildung des Bildungsbürgertums die Vorstellungen und Praxen des Kanonkonzepts, die dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Kritik gerieten wegen der Ausschlussmechanismen und hierarchischen Strukturen, die sie beförderten. Insbesondere die herausragende Stellung, die den Texten der Weimarer Klassik zugeschrieben wurde, führte einerseits dazu, dass andere Texte automatisch zu Vorläufern oder Nachahmern degradiert wurden, und andererseits dazu, dass Autor*innen ausgeschlossen wurden, auch solche, deren Texte heute selbstverständlich als lohnende Lektüren gelten (vgl. Ewert 2010: 1555, 1558).

      Kritik am Kanon

      In den 1960er Jahren werden der „Allgemeinverbindlichkeitsanspruch“ und die damit verbundenen Implikationen von „Hierarchie, Ausschließlichkeit und Nicht-Zugehörigkeit“ (Ewert 2010: 1556) des bildungsbürgerlichen und akademischen Kanons kritisiert als „Machtinstrument“, das „bloß gesellschaftliche Partialinteressen verkörpere“ statt „alle Teile der Gesellschaft demokratisch zu repräsentieren“ sowie als „eine Form von Zensur“, die „der implizierte Ausschluss von Werken aus der literarischen Tradition einer Gesellschaft“ darstelle (ebd.: 1557). Die Diskussionsfelder, die sich entwickelten – etwa die oben bereits genannten Felder: Schwerpunkt auf der Gegenwartsliteratur, Abwertung der sogenannten Nationalliteratur, Einbeziehung von Trivial- und Unterhaltungsliteratur, Berücksichtigung verschiedener Textarten und Genres, Verwendung verschiedener medialer Formen – lassen sich mit Ackermann (2001) unter dem Stichwort „Entkanonisierung ‚klassischer‘ Literatur“ (ebd.: 1349) fassen.

      Ideologiekritische Ansätze

      Daneben finden sich zwei weitere Diskussionszusammenhänge, die den Kanon in Frage stellen: ab den 1970er Jahren „[i]deologiekritische Ansätze“ (ebd.) sowie ab den 1980er Jahren „[f]eministische Positionen“ (ebd.). Dabei geht es insbesondere in der US-amerikanischen Diskussion ausgehend von der Kategorientrias race, class, gender (vgl. ebd., Ewert 2010: 1559) um die Ausarbeitung und Etablierung eines Gegenkanons. Darüber hinaus steht das Konzept Kanon grundsätzlich in der Kritik im Rahmen von Positionen, die auf eine „Entkolonialisierung des Kanons“ und eine „Entkanonisierung“ überhaupt zielen (Ackermann 2001: 1349, kursiv i.O.). Der literarische Kanon wird kritisiert als „Aushängeschild kultureller Hegemonieansprüche einer europäisch geprägten weißen Bürgerschicht“, als einer eurozentrischen Perspektive verpflichtet, die eine Einschränkung auf bestimmte Autoren – zugespitzt in der Formulierung von den „DEAD WHITE MALES“ (Volkmann 2017: 214, Hervorh. i.O.) – zur Folge hat.

      Feministische Ansätze

      Die feministische Literaturwissenschaft hat die Aufnahme von Autorinnen in die Literaturgeschichten, Leselisten an Universitäten und Schulcurricula eingefordert und die „Rekonstruktion weiblicher literarischer Traditionen“ (Ewert 2010: 1558). Dabei ging es nicht darum, den Kanon zu ergänzen, sondern die Prozesse, die zu Kanonisierung führen, zu hinterfragen und zu verändern, also auch um eine „Neuformulierung literaturhistorischer Prinzipien“ (ebd.). Auch die kritische Analyse von „Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen und -entwürfen“ zielte darauf, Schreib- und Lesegewohnheiten in ihren problematischen Verstrickungen sichtbar zu machen (vgl. ebd.). Diese Diskussionen desavouierten aus verschiedenen Perspektiven den vorhandenen Kanon und zeigten die komplexen Kanonisierungsprozesse und ihre Ausschlussverfahren gesellschaftlich „nicht-dominanter Kulturen und Gruppierungen“ (ebd.).

      Angesichts dieser vehementen Kritik stellt sich die eingangs zitierte Frage, die auch Ackermann an den Anfang ihres Artikels stellt „Brauchen wir noch einen Kanon?“ (2001: 1346). Die pragmatische Antwort darauf, die sich nach der grundlegenden Kritik und Abwendung von Begriff und Konzept ab den 1960er Jahren als Praxis in den verschiedenen Bildungsinstitutionen und im Literaturbetrieb entwickelt hat, ist die Arbeit mit einer Pluralität von heterogenen, offenen und dynamisierten Formen von Leselisten und Kanones. Wie Ewert (2010: 1599) schreibt, bietet sich „im Nebeneinander von Sub-, Gegen- und Alternativkanones“ ein „kreatives Potential“ für Forschung, akademische Lehre und (Schul-)Unterricht an.

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