Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Almut Hille
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СКАЧАТЬ Jahrgangsstufen, Curricula, Prüfungsordnungen und Bildungsstandards teilen, unterscheiden sich diese erheblich. Wie oben bereits skizziert, stellt Literaturdidaktik im Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache einen komplexen Zusammenhang dar, bei dem es auch gilt, zwischen unterschiedlichen

      Lernsozialisierungen,

      Ausgangssprachen,

      Sprachniveaus

      und Kursformaten

      zu differenzieren (vgl. Rösler 2012: 227–237, Schiedermair 2020: 95).

      Kommen wir auf das Lemma „Literaturdidaktik“ im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (2013) zurück. In ihm wird neben oder als Teil der Literaturwissenschaft auch die Literaturgeschichte als Bezugswissenschaft der Literaturdidaktik genannt. Wir möchten ihr einen Stellenwert einräumen, obwohl oder gerade weil im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache so oft, wenn (überhaupt) von der Arbeit mit Literatur im Unterricht die Rede ist, die Gegenwartsliteratur im Vordergrund steht.7 Unberücksichtigt bleiben dann die Bezüge zum Vergangenen im Gegenwärtigen, „the echoes of past narratives“ in der Gegenwart wie Piera Carroli (2008: 186) sie in ihrer Studie Literature in Second Language Education nennt. Vor diesem Hintergrund plädiert auch Neva Šlibar (2011) für die Beachtung literaturhistorischer Dimensionen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Sie schlägt ‚Spaziergänge‘ durch die Literaturgeschichte vor, die Lernende z. B. in eigenständigen Recherchen und nachfolgenden Präsentationen oder Inszenierungen unternehmen können – in Gruppenarbeit und ohne Schwellenängste gegenüber Nachschlagewerken. Literaturgeschichte(n) würde(n) so erlebbar und Text-Kontext-Dimensionen ohne Reduktion auf einen ‚Biografismus‘ der Autor*innen nachvollziehbar (vgl. Šlibar 2011: 85).

      Ein Nachschlagewerk, prädestiniert für ein solches Vorgehen, wäre z. B. die von David E. Wellbery u.a. herausgegebene Neue Geschichte der deutschen Literatur (2007). Sie steht für methodische Neuausrichtungen auch der Literaturgeschichtsschreibung. Ziel der gewählten Art der Darstellung von Literaturgeschichte ist es, einzelne Texte als „einzigartige Ereignisse“ (ebd.: 15) wahrzunehmen. Sie sollen nicht als „Veranschaulichungen einer Macht, einer Neigung oder Norm – als Geist eines Zeitalters oder einer Nation, als Klassenvorliebe oder ästhetisches Ideal“, als „typisch für etwas“ betrachtet werden (ebd.). Vielmehr sollen „wirkliche Begegnungen“ mit Texten ermöglicht werden, da es diese Begegnungen sind, die letztendlich das „Erregende der Leseerfahrung“ ausmachen (ebd.). Literaturgeschichte wird als Netz von Ereignissen erzählt, in dem Lesende sich nach Belieben bewegen können. So verweist das Inhaltsverzeichnis nicht auf einzelne Epochen, Dekaden oder Autor*innen sondern formuliert (im besten Fall Neugier erzeugende) Stichworte wie 1647. Dramaturgie des Reisens, 1804. Die Nacht der Phantasie oder Januar 1931. Irmgard Keun und die ‚Neue Frau‘. Jeder Eintrag beginnt mit einem Datum und einer historischen Schlagzeile; er endet mit Vorschlägen, welche weiteren Einträge im Kontext gelesen werden könnten.

      Textbeispiel

      Unter dem Eintrag Januar 1931 zum Beispiel begegnen Lesende nach der Schlagzeile Reichskanzler Brüning beruft eine Expertenkommission ein, um über die sich verschärfende Wirtschaftskrise zu beraten der Hauptfigur Gilgi aus Irmgard Keuns gleichnamigem, in jenem Jahr veröffentlichten Erfolgsroman Gilgi – eine von uns. Der Eintrag stellt ihr Verlangen nach Emanzipation und Geborgenheit, ihre alltäglichen (Überlebens-)Kämpfe in der Großstadt in den sogenannten Goldenen Zwanzigern, aber auch die desaströse wirtschaftliche Situation sowie den Medien- und Kulturbetrieb der Zeit vor; gleichzeitig werden Merkmale eines neusachlichen Schreibens expliziert. Vom Januar 1931 aus können Lesende zurückblättern zu 1670 Hermaphroditismus und Geschlechterkampf, 8. Februar 1765 „Papierene Mädchen erziehen“ und das private Leben meistern, Februar 1848 Die Neuerfindung eines Genres und Oktober 1924 Modernismus und Hysterie, aber auch nach vorn zu 30. Juni 1937 Schauspiel der Verunglimpfung und 1963 Liebe als Faschismus. So können abhängig von den individuellen Lektüren verschiedene Literaturgeschichtserzählungen entstehen, deren Grundlagen auch Zufälle, Anekdotisches und exemplarische Bezugnahmen bilden.

      Ein solches Umgehen mit literarischen Texten möchten wir mit dem Konzept des Arbeitens mit Textnetzen auch für das Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache empfehlen (→ Kap. 10, 18).

      Einen anderen Zugang zu literarischen Texten über neuere Konzeptionen von Literaturgeschichte bietet die 2017 von Sandra Richter publizierte Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur. Ihr Ziel sind Aufschlüsse darüber, „wie deutschsprachige Literatur in der Welt wahrgenommen wird“ (Richter 2017: 18). Anhand von „Fallbeispielen und ausgewählten Erzählungen“ mustert die Autorin „Verbreitungsformen und Verbreitungswege“ von Literatur sowie ästhetische und ethische Wertungen als Momente der Wahrnehmung und Deutung (ebd.).

      Textbeispiel

      Rainer Maria Rilke zum Beispiel erscheint in dieser Perspektive als „Vierländerdichter“ und „poeta touristicus“, der durch die Alpen und Italien, nach Ägypten, Schweden und mehrmals nach Russland reiste (vgl. ebd.: 275). Er schrieb auf Deutsch und Französisch, äußerte sich auch auf Russisch (vgl. ebd.). Weltweit rezipiert wurde besonders sein Spätwerk: Die Duineser Elegien (1923) zum Beispiel wurden ab 1927 zunächst ins Japanische, Polnische, Tschechische und Englische übersetzt; heute sind sie in allen Ländern Nord- und Südamerikas, Europas sowie in vielen asiatischen Ländern in entsprechenden Übersetzungen verbreitet (vgl. ebd.: 277ff.). Zu Intertexten wurden die Elegien etwa für das literarische Bekenntnis Einsiedler [Otšelnik] (1929) des bulgarischen Symbolisten Teodor Trajanov und für die Erzählung The Hungry Tide (2004) von Amitav Ghosh aus Indien. Mit einer solchen Betrachtungsweise wird deutschsprachige Literatur als Hybrid gekennzeichnet, das sich (inter-)regional, europäisch und global entfaltet und mehrsprachig ist (vgl. Richter 2017: 19f.). Gleichzeitig rücken die Lesenden in den Fokus. Denn es liegt weniger an einem „Text selbst, wie er wahrgenommen und gedeutet wird, als an seinen Lesern, ihren Interessen und Deutungsgewohnheiten“ (ebd.: 21).

      Ein solches Konzept ist einerseits in seiner Fokussierung auf die Lesenden anschlussfähig an Diskussionen im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (→ Kap. 20), andererseits eröffnet es neue Dimensionen einer Literaturbetrachtung, die für das Fach von Bedeutung sind. In den Fokus rücken Phänomene wie die Vernetzung von Texten (→ Kap. 10), Intertextualität und Intermedialität (→ Kap. 11), Mehrsprachigkeit (→ Kap. 13), aber auch Übersetzungen als Aneignungen, verschiedene Kultur- und Wissenschaftsbetriebe, Zeitenwenden, zivilisatorische (Auf-)Brüche sowie globale Literaturentwicklungen und ein Global Mainstream oder Western Canon (vgl. ebd.: 467–480).

      3 Gibt es einen Kanon?

      Braucht man einen eigenständigen Kanon für „Deutsch als Fremdsprache“? fragte Hartmut Eggert in einem so betitelten Aufsatz 1995, um diese Frage anschließend vorrangig mit Blick auf das Fach Deutsch als Fremdsprache und die internationale Germanistik zu diskutieren und letztendlich zu verneinen. Entscheidend ist dabei das Wörtchen „einen“: Den einen, starren, über längere Zeit gültigen Kanon für ‚das‘ Fach Deutsch als Fremdsprache oder ‚die‘ internationale Germanistik kann es nicht geben. Von Lehrkräften wird immer unter regional-, institutionen- und gruppenspezifischen Aspekten sowie curriculum- und prüfungsbezogen erwogen werden, welche literarischen Texte für Lehre und Unterricht geeignet erscheinen.

      In den frühen Debatten um die Auswahl literarischer Texte für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache waren einige Diskussionsfelder der 1970er Jahre um einen Kanon für den schulischen (Deutsch-)Unterricht in der Bundesrepublik wiederzuerkennen. Sie scheinen weiterhin relevant zu sein. Es ging und geht um Fragen wie

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