In der Fremde glauben. Torsten W. Müller
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Название: In der Fremde glauben

Автор: Torsten W. Müller

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

Серия: Erfurter Theologische Studien

isbn: 9783429061883

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СКАЧАТЬ Ansiedlung in der SBZ fehlte. In den Städten stand zudem kaum Wohnraum zur Verfügung, da sie teilweise zerstört waren. Bereits 1946 machte sich eine wachsende Binnenwanderung in die Städte bemerkbar.54 Gleichzeitig setzte aber eine starke Abwanderung der Vertriebenen in die Westzonen ein, sodass die Zahl der Vertriebenen in der SBZ deutlich abnahm. Schätzungen zufolge verließen etwa 900.000 bis eine Million Heimatvertriebene die SBZ/DDR.55

      Zunächst aber blieben die Neuankömmlinge in Thüringen und waren so in materieller Hinsicht unerwünschte Konkurrenten um knapp gewordene Ressourcen, in soziokultureller Hinsicht vielfach Fremde: Städter trafen auf Dorfbewohner, enteignete Besitzbürger auf ungeschmälert Besitzende, Schlesier auf Eichsfelder oder Thüringer, Katholiken auf Protestanten. „Die Folgen waren materielle Verteilungskonflikte und wechselseitige soziokulturelle Ausgrenzungsstrategien.“56

      Die Ankunft der Vertriebenen brachte für die katholische Kirche im Ostteil des Bistums Fulda fundamentale Veränderungen mit sich. Die konfessionelle und konfessionskulturelle Landkarte Thüringens wurde grundlegend geändert wie seit der Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr. Die durch Glaubensspaltung und Konfessionalisierung entstandenen „mental maps“, „geistige Landkarten“, markierten einst „eine der stabilsten Tatsachen der deutschen Geschichte in der Neuzeit.“57 Mit den Bevölkerungsverschiebungen in Folge des Zweiten Weltkrieges waren diese zerschlagen worden.58

      Auf dem Territorium des protestantisch geprägten Ostteils der Diözese Fulda war die katholische Kirche seit der Reformation immer eine Diasporakirche – eine Kirche in der Zerstreuung – gewesen.59 Der Zustrom der Heimatvertriebenen ließ den Anteil der Katholiken hier mehr als verdreifachen.60 In das Gebiet des 1946 errichteten Generalvikariates Erfurt gelangten durch Flucht und Vertreibung etwa 311.000 Katholiken.61 Die wenigen bestehenden katholischen Gemeinden konnten anfangs keine materielle und personelle Infrastruktur bereitstellen. Zu unerwartet war das Hereinströmen der Heimatvertriebenen gewesen, der Massenansturm überforderte kirchliche und staatliche Verantwortliche. Einige numerische Beispiele können dies verdeutlichen.

      In Gotha bestand seit 1851 eine weit ausgedehnte Missionspfarrei, zu der mehr als 100 Ortschaften gehörten. Bei Kriegsausbruch lebten auf diesem Gebiet etwa 3.000 Katholiken. Die Zahl erhöhte sich sprunghaft, als Heimatvertriebene aus Ostmitteleuropa ankamen, auf rund 60.000.62

      Die Stadt Weimar war Sitz einer eigenen katholischen Pfarrei und Sitz eines Dechanten. Die Seelenzahl der Stadt selbst stieg von 3.500 Seelen auf 9.000 an. Im Außenbezirk der Pfarrei lebte aber 1947/1948 der Großteil der katholischen Heimatvertriebenen, sodass 13 Seelsorgestellen63 mit eigenen Geistlichen neu errichtet wurden, zu denen jeweils eine große Anzahl von Ortschaften gehörte.64

      Im Seelsorgsbezirk Suhl gab es 1949 54 Erstkommunionkinder, von denen 48 Zugezogene waren, nur sechs wurden in Suhl geboren. Von den sechs in Suhl geborenen war wiederum nur bei zwei Kindern das eine Elternteil in Suhl geboren, alle anderen waren zugewandert aus Ost und West. Der Ortspfarrer resümierte: „Ein typisches Beispiel einer stets sich erneuernden Diaspora-Wanderpfarrei.“65

      In ländlichen, bisher rein protestantischen Gebieten entstand durch den Zuzug der Katholiken aus Ostmitteleuropa eine neue Diaspora, die nichts Herkömmliches mehr an sich hatte. Die konfessionellen Verhältnisse hatten sich unverkennbar zu Gunsten der Katholiken verschoben.66 Gleichzeitig etablierten sich in diesem neuen Kontext neue Konzepte von Seelsorge, da Kirche und Katholizismus nicht mehr dieselben wie die von 1932 waren.67 Der Zuzug katholischer Schlesier, Sudetendeutscher oder Ermländer ließ die Diaspora Mitteldeutschlands gar als Diaspora der Heimatvertriebenen oder als „Flüchtlings-Diaspora“ erscheinen.68 Offenkundig hatten 1945 Transformationsprozesse von entscheidender Bedeutung eingesetzt, die fulminante und nie gekannte Veränderungen mit sich brachten. Auch die Hermeneutik des Diasporabegriffs erfuhr eine Erweiterung, die der neuen Situation Rechnung trug.

      Die heimatvertriebenen Katholiken kamen in ein Gebiet, das durch die alte, konfessionelle Diaspora geprägt war und auch weiterhin geprägt sein sollte: die konfessionelle Minderheit der Katholiken69 lebte in einer konfessionellen Mehrheit von Protestanten. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts behauptete dieser konfessionelle Diasporabegriff das Feld der theologischen und historischen Forschung.70 Hinzu trat alsbald eine weitere, neue Form der Diaspora: Die konfessionelle Minderheit befand sich in einer einheitlich geprägten ideologischen Umwelt, was man mit „ideologischer oder weltanschaulicher Diaspora“ umschrieb.71 Dieser Begriff tritt Mitte des 20. Jahrhunderts erstmals auf72 und kennzeichnet die Situation der (heimatvertriebenen) Katholiken in der SED-Diktatur. Infolgedessen änderte sich auch das Verhältnis zwischen katholischer und evangelischer Kirche, sodass bezüglich der Ökumene neue Wege beschritten werden konnten: „Die Evangelischen waren nicht die ‚anderen‘. Die Kirchen verstanden sich in der gleichen Bedrängnis zusammengehörig. Die ‚anderen‘: das war die Partei, der Staatssicherheitsdienst, oftmals die Schule. Deswegen bestand der Abstand nicht mehr zwischen den Konfessionen, sondern zwischen den Christen einerseits und der marxistisch-leninistischen durchgesetzten Gesellschaft andrerseits: eine ideologische Diaspora.“73 Die Katholiken in der DDR lebten also in einer „doppelten Diaspora“74, die die Minderheitensituation der Katholiken gegenüber evangelischen Kirchen wie auch eine Minderheit von Christen in ideologischer (weltanschaulicher) Diaspora umschreibt.

      Neben leiblich-seelsorglichen Problemen, die die hunderttausenden „Neubürger“ für die katholische Diaspora-Kirche mitbrachten, zeichnete sich sehr schnell eine zusätzliche Belastungsprobe ab: die hohe Fluktuation der Flüchtlinge. Der Abwanderungstrend der Vertriebenen spielte von Anfang an – ab 1948 dann in größeren Ausmaßen – eine bedeutende Rolle für die sich bildenden katholischen Gemeinden Thüringens. Die Zahl der Vertriebenen in der SBZ hatte Ende 1947 ihren Höhepunkt von 4,4 Millionen erreicht. Trotz der Weiterwanderung vieler in die Westzonen konnte diese Zahl bis 1949 beibehalten werden, da starke Neuzugänge von „Umsiedlern“ zu verzeichnen gewesen waren. In den 1950er Jahren nahm die Anzahl der Vertriebenen in der SBZ/DDR deutlich ab; die Westwanderung bzw. „Republikflucht“ setzte sich bis zum Mauerbau 1961 kontinuierlich fort.75 Das Problem der „Wanderung“ bzw. die „Frage des Bleibens“ sollte sich für die katholischen Gemeinden bis 1989 als virulent erweisen.76 Einige Beispiele aus dem ersten Nachkriegs-Dezennium der katholischen Kirche Thüringens sollen das illustrieren:

      Der Seelsorgebezirk Großbrembach war 1947 nach dem Zuzug katholischer Heimatvertriebener errichtet worden. Zwei Jahre später war der Höchstwert der Gläubigen erreicht; man zählte 1.200 Katholiken in elf Orten. Bis 1953 wanderten ca. 300 Katholiken ab.77 Da dieser Trend anhielt, war bald kein eigener Seelsorger in Großbrembach mehr nötig, sodass der Geistliche bereits 1957 nach Guthmannshausen verzog und die Seelsorgestelle von dort aus mit versorgte.78

      Ein ähnliches Bild ergab die Situation in Vieselbach. Durch Binnenmigration der Vertriebenen in die Städte und durch Abwanderung in die Bundesrepublik verlor diese 1946 gegründete Seelsorgestelle zahlreiche Gemeindemitglieder. 1948 wurden 2.221 Katholiken gezählt, 1953 waren es nur noch 1.360 und 1957 wurde schließlich die Tausendergrenze unterschritten. Allein in den Jahren von 1951 bis 1957 verringerte sich die Seelenzahl um 45 %.79

      Die Abwanderung der Katholiken war für die Priester, die Gemeinden errichten wollten, besonders enttäuschend. Vor allem auch dann, wenn ein Kirchenneubau geplant war. In Gispersleben beispielsweise begann der Ortsgeistliche Heinrich Kraut80 1954 mit dem Bau eines eigenen Gotteshauses für die noch recht „junge“ Gemeinde. Er schrieb in die Kirchenchronik:

       „Zum großen Leidwesen des Seelsorgers wanderten viele, besonders solche, die am meisten beim Bau u. Schachten mitgeholfen hatten, aus. Als ich nach einem kurzen Urlaub bei meiner Mutter in Somborn (Freigericht) bei Hanau am Main nach Gispersleben zurück kam, waren 160 verschwunden. СКАЧАТЬ