Название: In der Fremde glauben
Автор: Torsten W. Müller
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Erfurter Theologische Studien
isbn: 9783429061883
isbn:
Exkurs: „Umsiedlerpolitik“ im Arbeiter- und Bauernstaat
Die „Umsiedlerpolitik“ in der SBZ/DDR folgte zwei Maßgaben. Zum einen der Deklarierung der Unmöglichkeit der Rückkehr der Vertriebenen in die alte Heimat – Menschen auf „gepackten Koffern“ mit attentistischer Grundhaltung konnte man beim Aufbau des Sozialismus nicht gebrauchen – zum anderen die Gleichberechtigung mit sozialpolitischen Integrationshilfen in der neuen Heimat.83 Diese von der SMAD und der KPD/SED getragene „Umsiedlerpolitik“ war bestimmt vom Endziel der rückhaltlosen Assimilation der Vertriebenen in die Ankunftsgesellschaft.84
Bereits der Blick auf die amtliche Sprachpolitik in der Einleitung dieser Untersuchung offenbart die Dynamik dieses Eingliederungsprozesses der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen in der SBZ/DDR nach dem Zweiten Weltkrieg. So begann bereits 1948 das schrittweise eingeleitete Ende der spezifischen „Umsiedlerpolitik“. In jenem Jahr wurden auf Druck der Sowjets die Umsiedler-Sonderverwaltungen85 aufgelöst und in die Arbeits- und Innenverwaltung überführt.86 Einer kurzen Phase materieller Förderung mit dem Höhepunkt des DDR-Umsiedlergesetzes 1950 – einen Lastenausgleich gab es nicht, nur geringe Einmalzahlungen zur Anschaffung von Mobiliar und Hausrat87 – folgte schließlich Ende 1952/Anfang 1953 die offizielle Erklärung der DDR-Regierung, dass die Integration der „ehemaligen Umsiedler“ weitgehend abgeschlossen sei. Das Vertriebenenproblem wurde in der DDR-Öffentlichkeit und in den staatlich kontrollierten Medien nicht mehr thematisiert88 und dem gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozess untergeordnet.89 Ein SED-Funktionär hielt diesbezüglich zusammenfassend fest: „Es gibt bei uns keine Umsiedlerfrage. Die neuen Bürger haben ihre neue Heimat gefunden. Die täglichen Probleme des Aufbaus, ihre volle Einschaltung in die politischen Ereignisse lassen Sentimentalitäten nicht zu. Solch ein chauvinistischer Revanchebegriff wie ‚heimatvertrieben’ existiert nicht im Wortschatz eines Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik.“90
Ab 1952/1953 wurden die Vertriebenen und ihre Aktivitäten als Unruhepotential in der Gesellschaft (innenpolitisch) und als Störfaktor in den ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen der DDR und Polen sowie zwischen der DDR und der Tschechoslowakei definiert (außenpolitisch). Damit begann die „negative Vertriebenenpolitik“91 des SED-Regimes, die v.a. in zwei Bereichen sichtbar wurde: Zum einen in der Frage der Formierung landsmannschaftlicher Treffen bzw. Selbstorganisationsversuchen der „Umsiedler“92 und zum zweiten in der Haltung der Vertriebenen bzw. der Bevölkerung insgesamt zur Oder-Neiße-Grenze.93
Besondere Vertriebenenvereinigungen würden nämlich aus SED-Sicht automatisch zum Aufbau von „Revanchistenorganisationen“94 führen, die die Oder-Neiße-Grenze und damit den Weltfrieden95 infrage stellen.96 Landsmannschaftliche Gruppierungen, Tendenzen zur Selbstorganisation von Vertriebenen und jede kulturelle Sonderidentität wurden daher von der SED verboten und vehement verfolgt. Die Geschichte von Flucht und Vertreibung wurde tabuisiert.97
Darum nahm die Relevanz innerkirchlicher Vertriebenenorganisationen erheblich zu, und auch die Kirchen gerieten mit ihrer Tätigkeit unter verstärkte polizeistaatliche Observation des SED-Staates.98 Der Katholizismus war – zusammen mit dem Protestantismus – die einzige widerwillig geduldete weltanschauliche Alternative zum Staatssozialismus.99
2.3 Neue Funktionsträger
Die Vertriebenen waren zum großen Teil religiös sozialisiert und suchten, in der Kirche ein Stück der verlorenen Heimat zu finden. Nur langsam konnte aber eine gewisse Planung und Ordnung in die Pastoral Einzug halten. Das Vorhandensein der während des Krieges evakuierten katholischen Priester aus den westlichen (Erz-)Diözesen war eine erste Grundlage dafür. In zahlreichen Dörfern befanden sich Geistliche, die rheinische Katholiken betreuten und sich schließlich auch der Heimatvertriebenen aus dem Osten annahmen. Der bekannteste und wohl am nachhaltigsten wirkende Evakuierten-Seelsorger in Thüringen dürfte der Kölner Diözesanpriester Joseph Plettenberg gewesen sein100, der im Juni 1944 zum Obmann der Kölner Seelsorger im Bistum Fulda ernannt wurde und mit Verhandlungsgeschick und pastoraler Umsicht die „Abgewanderten-Seelsorge“ für Thüringen leitete.101 In der Nachkriegszeit übte er wichtige Funktionen in der Vertriebenenseelsorge Thüringens aus.
Das Josef Plettenberg verliehene Amt des Obmannes erfuhr nach der Ankunft von Heimatvertriebenen in Mitteldeutschland einen ständigen Ausbau, was auch der Erfurter Dompropst Freusberg begrüßte. Zunächst wurde Plettenberg von seinen Aufgaben als Seelsorger in Großrudestedt entbunden102 und schließlich zum Bischöflichen Kommissar für die Abgewandertenseelsorge in Thüringen ernannt.103 Dieses Amt erfuhr alsbald einen enormen Bedeutungszuwachs, da Katholiken in Scharen nach Mitteldeutschland einströmten und die Pastoral bzw. der Einsatz der Priester einer zentralen Koordinierungsstelle bedurften.
Plettenberg wurde Bischöflicher Kommissarius104 in der schwierigen Zeit als die Kommunikation mit dem Fuldaer bzw. Kölner Ordinariat weitgehend unterbunden war und er notgedrungen Entscheidungen ohne Absprache mit der bischöflichen Behörde treffen musste. Durch die verworrenen Verhältnisse während der letzten Kriegstage, durch den Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ und später auch durch die Behörden der SBZ wurde diese Entwicklung beschleunigt. Die zunehmenden Hemmnisse des Fuldaer Bischofs, in seinem östlichen Jurisdiktionsgebiet zu agieren und reagieren, erforderten es vermehrt, Entscheidungen vor Ort zu treffen.
Eine dauerhafte kirchliche Zentralisierung auf Erfurt hin bahnte sich zu dieser Zeit immer deutlicher an. Seit Jahresende 1944 erfolgte die Koordinierung der rheinischen Priester „wegen der schlechten Post- und Verkehrsverhältnisse“ vollständig von Erfurt aus, indem Dompropst Freusberg den Geistlichen die „Cura animarum“ erteilte, Obmann Plettenberg die Seelsorgebezirke zuteilte und die Priester in ihre Aufgaben einwies. Das Ordinariat in Fulda erteilte nachträglich die Genehmigung der Anstellung.105
Am 20. Januar 1945 errichtete der Bischof von Fulda in Erfurt schließlich ein eigenes Bischöfliches Kommissariat für die Abgewanderten-Seelsorge, das die gesamte Seelsorge an den evakuierten Katholiken nach festgelegten Richtlinien regelte, und ernannte Joseph Plettenberg zum Kommissar.106 Plettenberg arbeitete auch jetzt eng mit dem Leiter des Bischöflichen Geistlichen Gerichts, Dr. Freusberg, zusammen, mit dem er alle Versetzungen und Neuanstellungen der Priester – besonders im Dekanat Erfurt – besprach.107
Zunächst führten diese beiden Geistlichen eine Strukturreform der Diasporapfarreien durch, indem sie allzu große Seelsorgsbezirke provisorisch neu aufteilten. Für diese Umgruppierung erteilte das Generalvikariat in Fulda dem Bischöflichen Kommissar im Voraus die Genehmigung.108 So befanden sich beispielsweise die an der Pfarrgrenze der Pfarrei Weimar liegende Orte über 20 km vom Pfarrort entfernt, dagegen nur wenige Kilometer von Erfurt. Eine Neuumschreibung der Pfarreien war also durch die Migrationsströme und die damit verbundenen Neugründungen von Seelsorgestellen und Gottesdienststationen am Kriegsende unbedingt notwendig geworden.
Die in der Seelsorge an Evakuierten und Flüchtlingen eingesetzten Priester, zumeist aus der Erzdiözese Köln, wurden schließlich nur noch auf Antrag bzw. Anregung Plettenbergs angestellt.109 Er entschied – meist nach einer Rücksprache mit Freusberg – auch über Versetzungen, führte Verhandlungen mit den zuständigen Stellen für den katholischen СКАЧАТЬ