Balancieren statt ausschließen. Hildegard Wustmans
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СКАЧАТЬ wurde, entsteht jetzt ein Vakuum, das jede/jeder Einzelne neu füllen muss. Die Normalbiografie wird damit zur ‚Wahlbiografie‘, zur ‚reflexiven Biografie‘, zur ‚Bastelbiografie‘. Alle menschlichen Lebensbereiche stehen zur Wahl. „Leben, Tod, Geschlecht, Körperlichkeit, Identität, Religion, Ehe, Elternschaft, soziale Bindungen – alles wird sozusagen bis ins Kleingedruckte hinein entscheidbar, muß, einmal zu Optionen zerschellt, entschieden werden“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994, 16). Die zunehmende Komplexität von Entscheidungsmöglichkeiten und Entscheidungszwängen führt auch zu einem erhöhten Konfliktpotenzial in Partnerschaften und in den Zusammenhängen von Ehe und Familie, weil verbindliche Regeln fehlen (vgl. Beck-Gernsheim 1986, 144–173). Dafür stehen die hohen Scheidungsquoten und die Zahl der alleinerziehenden Mütter, von denen ein großer Teil auf Sozialhilfe angewiesen ist.6 Der moderne Sozialstaat übernimmt im Kontext der sozialen Absicherung einige Aufgaben, aber auch diese werden durch neue Sozialgesetzgebungen immer weiter zurückgefahren. Die Situation für die Modernisierungsverlierer/-innen wird immer prekärer.7

      Zusammenfassend kann gesagt werden, dass im Generationenvergleich Frauen heute in der Regel besser dastehen als ihre Mütter und Großmütter, ohne jedoch mit den Männern gleichgezogen zu haben. Das Interesse von Frauen an eigenständiger ökonomischer Absicherung und Berufstätigkeit gerät immer wieder in Konflikt mit dem Wunsch nach Partnerschaft und Mutterschaft. Häufig sehen sich Frauen in ihrem Bestreben nach einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf Mehrfachbelastungen ausgesetzt, da sie zum einen noch immer mit einem vielfach traditionellen Rollenverhalten der Partner konfrontiert sind und zum anderen ausreichende Ganztagsbetreuungseinrichtungen für Kinder nach wie vor Mangelware sind, gerade in ländlichen Gebieten. Für viele Frauen gilt, dass sie die Differenz zwischen den neuen Möglichkeiten und den alten Erwartungen deutlich und mit aller Macht spüren. Sie bewegen sich zwischen Herausforderung und Überforderung. Auf diese Zusammenhänge macht die französische Philosophin Elisabeth Badinter (2010) aufmerksam. Sie plädiert dafür, die Mutterrolle zu entlasten und auf die Fähigkeiten von Frauen, das eigene Leben und die Beziehung zu ihren Kindern zu gestalten, zu vertrauen. „Je mehr man die Mutterrolle entlastet, umso mehr respektiert man die Entscheidungen der Mutter und der Frau und umso stärker wird diese geneigt sein, das Experiment zu wagen, ja es sogar zu wiederholen. Das Modell der Halbzeitmutter zu unterstützen, das einige allerdings immer noch unzureichend und damit verwerflich finden, ist heutzutage der ideale Weg, Frauen zum Kinderkriegen zu ermuntern. Wenn man hingegen von der Mutter verlangt, die Frau zu opfern, die in ihr steckt, wird sie nur die Geburt des ersten Kindes noch weiter hinauszögern oder gar ganz davon absehen“ (Badinter 2010, 182 f.).

      Die Lage der Frauen ist von einer ausgeprägten Ambivalenz gekennzeichnet und sie sind von der potenziellen Gefahr bedroht, zwischen den Polen und den unterschiedlichen Erwartungen zerrieben zu werden. Eine Möglichkeit, dieser Gefahr zu entgehen, besteht darin, sich immer wieder neu den eigenen Ansprüchen und Erwartungen zu stellen und sie in eine Balance zu den Erwartungen im Außen zu bringen. An dieser Arbeit an den Balancen führt wohl kein Weg vorbei, wenn Frauen einem Nullsummenspiel entgehen wollen.

      1.1.3 Pluralität in der Kirche – die pastorale Herausforderung der Balance

      Diese gesellschaftlichen Entwicklungen machen selbst vor der Kirche nicht halt, auch wenn sie mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung bei ihr zu verzeichnen sind. Der gesellschaftliche Prozess von Individualisierung und Pluralisierung hat auch bei ihr Einzug gehalten und fordert Konsequenzen. Das katholische Milieu ist zerbrochen. In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zerfiel das pluralitätskanalisierende katholische Milieu in einem unaufhaltsamen Prozess (vgl. Bucher 1999, 93; Kaufmann 1979; Gabriel 31994). Inzwischen besteht auch in jenen Bereichen eine Wahlmöglichkeit, wo religiöse Normen die Wahl immer zu verhindern suchten. Es gibt zwar nach wie vor die Vorgaben der Institution, aber diese stehen „unter dem permanenten Zustimmungsvorbehalt ihrer eigenen Mitglieder. […] Auch der Katholik und die Katholikin haben heute die Möglichkeit, sich ihre eigenen Muster der Lebensführung, der Weltbetrachtung und der religiösen Weltwahrnehmung selbst zusammenzustellen – und das mehr oder weniger sanktionsfrei“ (Bucher 2004c, 19). Zudem haben die Kirchen längst nicht mehr das Monopol im Bereich des Religiösen (vgl. Gabriel 31994, 142–156). Immer mehr verlassen die Kirchen oder sie stellen sich aus einer Vielzahl von religiösen Werten und Formen ihre ganz private Religion zusammen. Menschen definieren für sich ganz persönlich, woran sie glauben und worauf sie hoffen. „Es gibt mehr Protestanten und Katholiken, die an Schutzengel glauben (56 beziehungsweise 66 Prozent) als an die göttliche Dreifaltigkeit (23 beziehungsweise 45 Prozent) und daran, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist (43 beziehungsweise 60 Prozent) – so das Ergebnis einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (1997). Nur Minderheiten der Kirchenmitglieder akzeptieren den Glauben an die Auferstehung der Toten (Protestanten: 29; Katholiken: 49 Prozent), an das Jüngste Gericht (Protestanten: 18; Katholiken: 36 Prozent), und ‚dass es eine Hölle gibt‘ (Protestanten: 16, Katholiken: 29 Prozent). Gerade im Zusammenhang mit solchen ‚letzten Dingen‘ kehrt sich inzwischen sogar der gängige statistische Erfahrungssatz ‚Je älter, desto frömmer‘ um. Nach einer Umfrage des Markt-und Meinungsforschungsinstituts Emnid aus dem Jahre 1997 finden Glaubensaussagen, ‚dass meine Seele in irgendeiner Form weiterlebt‘, bei den über 60-Jährigen mit 50 Prozent weniger Zustimmung als bei den 14- bis 29-Jährigen (mit 56 Prozent) und bei den 30- bis 39-Jährigen (mit 60 Prozent). Die Aussage ‚Es gibt ein Leben nach dem Tod‘ wird nur noch von einem guten Drittel (36 Prozent) der über 60-Jährigen akzeptiert und stößt bei 59 Prozent dieser Altersklasse auf Ablehnung, während diese Überzeugung von mehr als der Hälfte der jüngsten Befragtengruppe geteilt wird. Von diesen sagen 41 Prozent: ‚Mit dem Tod ist alles aus‘, unter den 60-Jährigen und Älteren stimmen sogar knapp zwei Drittel (61 Prozent) dieser Aussage zu. Von beträchtlichen Teilen der älteren Generationen werden somit die auf das Jenseits und die Endzeit gerichteten Glaubensüberzeugungen stark in Zweifel gezogen. […] Es nehmen zu: die rituelle Abweichung der Kirchenmitglieder in Glaubenshandlungen, die von den Kirchen erwartet werden, die Abwehr von Glaubensvorstellungen, die als zentral definiert werden (Gottesbild, Lehre von der Auferstehung und vom ewigen Leben), und ‚Synkretismusbildungen‘, das heißt persönliche Kombinationen von christlichen und anderen religiösen Wertvorstellungen. Solche ‚Glaubenskomponisten‘ bilden inzwischen mit 47 Prozent die Mehrheit der europäischen Bevölkerung“ (Ebertz 2003, 23 f.; vgl. ders. 1998; ders. 1997).

      Dies spricht für eine Umgestaltung des Religiösen (vgl. Kaufmann 1991, 269). Dabei sind die Ambivalenzerfahrungen im Leben von Menschen auch heute noch religionsproduktiv (vgl. Zulehner 1999, 95). Menschen suchen auch heute noch Halt und Sinn und sie greifen dort zu, wo ihnen die Angebote für den Moment plausibel und hilfreich zu sein scheinen (vgl. Först/Kügler 2010). Ändern sich die Umstände, dann kann sich auch der Bereich des Religiösen ändern. Religion ist somit nicht aus der Gesellschaft verschwunden, aber sie ist immer weniger kirchlich eingebunden und verwaltet (vgl. Ebertz 2003, 65). Zugleich spielt sich der religiöse Pluralismus eben auch unter dem eigenen kirchlichen Dach ab (vgl. Gabriel 2009, 121). Darüber hinaus zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass sich der Wahrnehmungshorizont in Sachen Religion immer mehr auf das eigene Ich verlagert. Es geht im Kontext des Religiösen um Selbstfindung, Selbsterfahrung, Selbstvergewisserung und um die Intensivierung des eigenen Lebens, der eigenen Existenz, um Erlebnisverdichtung und um ungestillte Sehnsüchte und Erfahrungen. Diese Erwartungen werden auch von einigen Interviewpartnerinnen deutlich in Gesprächen benannt. Im Kontext der Auseinandersetzung mit Spiritualität und in den unterschiedlichen Frauenliturgiegruppen ist Selbsterfahrung ein wichtiger Punkt (vgl. Kapitel 3).

      Religion zeigt sich in neuem Gewand an ganz unterschiedlichen Orten und säkulare Orte und Ereignisse treten als neue Anbieter hinzu. Dies führt zu der Konsequenz, dass die Bedeutung des Religiösen im Leben von Menschen und in der Gesellschaft längst nicht mehr eindeutig zu benennen ist. „Es kommt zu einer Mehrfachbewegung im Felde des Religiösen. Religiöse Versteppung, etwa in den neuen Bundesländern, kirchlich verwaltete traditionelle Religiosität und die Renaissance СКАЧАТЬ