Balancieren statt ausschließen. Hildegard Wustmans
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СКАЧАТЬ der frühen Frauenbewegung war die Verschiedenheit der Frauen ein Tabu. Die einzelne Frau definierte sich über die Gruppe der Frauen, eine Gruppe von Opfern im Patriarchat. Raum für Kritik untereinander war nicht vorgesehen und wurde auch nicht zugelassen. Wurde die Verschiedenheit thematisiert oder Kritik geäußert, galt dies schnell als unsolidarisch und Verrat am Befreiungsprojekt der Frauen.

      Im Denken der Geschlechterdifferenz werden Frauen jedoch nicht mehr als Gruppe von Gleichen, sondern als ein in sich vielfältiges und unterschiedliches Geschlecht wahrgenommen und damit grenzt sich dieser Ansatz fundamental von der Kategorie einer allgemeingültigen Frauenerfahrung ab. Mehr noch, hier wird das Denken von der allgemeinen Frauenerfahrung als Ideologie im Feminismus entlarvt: „Die schlimmste Vereinfachung in der Frauenbewegung war es, nicht mit den Unterschieden zwischen Frauen umgehen zu wollen bzw. zu können“ (vgl. Libreria delle donne di Milano 1991, 97). Das Postulat einer allgemeingültigen Frauenerfahrung führt dazu, dass der Mangel an gegenseitiger Kritik die Solidarität selbst untergräbt. Wenn jedoch die Differenz zum Ausgangspunkt gemacht wird, stellt sich unabwendbar die Frage nach den verschiedenen Standpunkten. Das ist prekär, denn es ist erforderlich, vom eigenen Standort aus zu sprechen. Von diesem Standort aus sind Aussagen über sich selbst und das Gegenüber zu machen. Das ist eine Zumutung, weil es eine neue Grammatik erfordert. Aber erst mit dieser neuen Grammatik, die auf dem Boden der Differenz entworfen wird, kann man dem Ausschluss entgehen und die Möglichkeit der Balance schaffen. Das ist fortdauernde Anstrengung, denn die Balance ist immer wieder neu herzustellen.

      Auf dem Boden der (vermeintlichen) Gemeinsamkeiten wird vielfach ein Harmoniediskurs geführt. Die Gemeinsamkeiten schließen die Differenz aus, weil sie diese letztlich nicht ertragen können. In Harmoniediskursen werden vorschnell die Gemeinsamkeiten gesucht und dabei werden auch jene Potenziale und Energien zugedeckt, die in der Differenz stecken. Indem verschiedene Standpunkte benannt werden können, wird die Differenz sichtbar. Es wird erfahrbar, dass die Differenz die Dinge in Bewegung setzt und nicht das Gleiche. Es wird erfahrbar, dass Verschiedenheit zu einer sprudelnden Quelle werden kann, die das Prinzip der Gleichheit überwindet, das in seiner Starrheit nur Stagnation bedeutet. Differenz ist ein Wert, auch und gerade weil sie eine Zumutung ist, wachsen lässt und ein Zusammen auf der Basis der Balance erst ermöglicht.

      „Aber wie sieht dieses ‚Zusammen‘ aus? Ohne Riten und Mythen, die uns lehren könnten, diejenigen, die uns gleichen, zu lieben und mit ihnen zu leben, besteht permanent die Gefahr der Zerstörung unter uns. Wir brauchen Werte, die wir teilen, damit wir koexistieren und gemeinsam etwas kreieren können. Und es ist wichtig, daß wir als Frauen existieren und uns als Frauen lieben können, um den anderen, den Mann lieben zu können“ (Irigaray 1987, 124; vgl. dies. 1998, 223; dies. 1991a; dies. 1991b).

      Im Denken der Geschlechterdifferenz wird die Zweiheit sehr deutlich als eine grundsätzliche Fragestellung erkannt. Zugleich ist auf dieser Basis eine Perspektive für den Umgang mit Zweiheiten möglich: die ständige Arbeit an der Balance. Die Balance der verschiedenen Pole bedeutet ständige Bewegung und Dynamik. Die Dominanz der Gleichheit führt in die Stagnation, die Anerkennung der Verschiedenheit kann immer wieder einen neuen Anfang bedeuten.

      Ein besonderer Ort, sich der Differenz zu stellen und an ihrer Balance zu arbeiten, können Rituale sein. Rituale stehen auf der Basis der verschiedenen Erfahrungen von Männern und Frauen, ihren verschiedenen Aufgaben und Rollen in der Gesellschaft, und gestalten sich unterschiedlich. Dies belegen zumindest eindeutig Rituale im Kontext anderer Gesellschaften und Kulturen. In ihnen gibt es Initiationsrituale für Jungen, die sie für ihre neue Rolle als Mann befähigen sollen. Für Mädchen gibt es vergleichbare Rituale, die den Prozess vom Mädchen zur Frau begleiten (vgl. Kubick 1993; Rauter 1993). In bestimmten Kulturen gibt es auch im weiteren Lebenslauf geschlechtsspezifische Rituale. Victor Turner, auf den in Kapitel 4 noch sehr ausführlich eingegangen wird, berichtet von dem Isoma-Ritual bei den Ndembu, einem Stamm in Nordwestsambia, wo er zweieinhalb Jahre Feldforschung betrieb (vgl. Turner 2000). Bei diesem Ritual handelt es sich um die von den Ndembu selbst so aufgefasste Klasse der „Frauenrituale“ bzw. „Fortpflanzungsrituale“. Das Isoma-Ritual wird bei Unfruchtbarkeit angewandt. Im Ideal sollte eine Frau, die im Frieden mit ihren Mitmenschen lebt und ihrer verstorbenen Verwandten gedenkt, verheiratet und Mutter ‚lebhafter und schöner Kinder‘ sein (vgl. ebd., 18). Bei Unfruchtbarkeit liegt ein Schatten auf der Frau. Dieser Schatten ist eine Ahnin aus ihrer matrilinearen Verwandtschaft, die die Frau vergessen hat. „Man hält die von dem Schatten verursachte Unfruchtbarkeit für einen vorübergehenden Zustand, der mit Hilfe der Durchführung entsprechender Riten aufgehoben werden kann. Sobald eine Frau sich dieses heimsuchenden Schattens und daher ihrer primären Bindung an ihre matrilineare Verwandtschaft erinnert, wird die Unfruchtbarkeit aufhören; sie kann mit ihrem Mann weiter zusammenleben, denn ihr Bewußtsein ist nun dafür geschärft, wem ihre Loyalität und die ihrer Kinder gebührt“ (ebd., 19).

      Bei der Untersuchung dieses Rituals wie auch anderer Frauenkulte zeigt sich, dass es eine Dreiphasenstruktur (vgl. Kapitel 4.3.1; van Gennep 1999) aufweist. „Die erste Phase, Ilembi genannt, trennt die Kandidatin von der profanen Welt; die zweite namens Kunkunka (wörtlich: ‚in der Grashütte‘), isoliert sie teilweise vom alltäglichen Leben, während die dritte, die die Bezeichnung Ku-tumbuka trägt, einen festlichen Tanz umfaßt, mit dem man die Heilung der Kandidatin und ihre Rückkehr zum normalen Leben feierlich begeht. Diese letzte Phase des Isoma-Rituals ist erreicht, wenn die Kandidatin ein Kind zur Welt bringt und es das Kleinkindalter überlebt“ (Turner 2000, 20 f.).

      In unserer Gesellschaft gibt es solch kulturell eingebundene Rituale nicht. Aber das heißt nicht, dass es keinen Bedarf dafür gibt. Vor allem Frauen formulieren den Wunsch nach Ritualen in Krisenzeiten oder bei besonderen Ereignissen in ihrem Leben. Es gilt auch heute, was Turner schon bei den Ndembu entdeckte, „daß die Entscheidung, ein Ritual auszuführen, sehr oft mit Krisen im Sozialleben“ zusammenhängt (Turner 2000, 17; vgl. Riedel-Pfäfflin/Strecker 1998).

      Wenn Frauen heute Rituale entwickeln und feiern, ihre eigene spirituelle Kompetenz entfalten, dann tun sie etwas Unerhörtes. Sie beanspruchen für sich, dass Rituale heil machende, befreiende und segnende Zustände menschlicher Existenz und menschlichen Zusammenlebens vorwegnehmen und erfahrbar machen und dass mit ihrer Hilfe Krisen durchschritten und überwunden werden können. Durch Rituale wird es ihnen möglich, neue soziale Orte zu erobern. Dies zeigt sich in besonderer Weise dann, wenn Frauen Rituale entwickeln und feiern, die verworfene Teile des Lebens benennen (das Ende einer Beziehung, bei einer Frühgeburt, nach einer Vergewaltigung), und wenn sie diese Erfahrungen im Ritual in heilvollere Zustände überführen. Die Themen, die sie benennen, verstören. Zugleich gelingt es durch die Zeichen, die sie ausbilden, Schritte ins Leben zu weisen. Die Rituale vergegenwärtigen Situationen und ermöglichen aber auch, diese abzuschließen und zu überschreiten. Eine Veränderung tritt ein, Perspektiven und Zukunft werden eröffnet. Die Themen, die Frauen in Frauenliturgien und in Ritualfeiern aufgreifen, bestechen durch ihre Lebensnähe, durch ihre ansprechende und kreative Form in der Umsetzung (vgl. Baumann u. a. 1998). Die Frauen entscheiden, welches Thema, welche Lebensfrage im Ritual beschrieben und transformiert werden soll. Dabei übertragen sie besondere Ereignisse, Fragestellungen, Erfahrungen auf etwas, was sie in den von ihnen entwickelten spirituellen Feiern und Ritualen selbst vollziehen. Sie stellen ihre Erlebnisse und Fragen in einen spirituellen Kontext, den die Teilnehmerinnen aktiv erfahren und erleben können.

      „Frauen erleben sich hier als liturgieschöpferisch und liturgiegestaltend und insofern als Trägerinnen dieser Gottesdienste. Es sind besonders ihre spezifischen Anliegen, die in den gottesdienstlichen Feiern ihren Platz finden: Wo sonst finden Frauen Aufnahme als mißbrauchte und vergewaltigte Frauen, als Frauen, die Kinder durch Fehlgeburten und Totgeburten verloren haben, als kinderlose oder alleinerziehende Frauen, als Frauen in der Doppelbelastung von Familie und Beruf, als alleinlebende, als in hetero- oder homophilen Beziehungen lebende und als alternde Frauen, als Frauen in Lebenskrisen, als Frauen in der Auseinandersetzung mit der Amtskirche, als denkende und fühlende Frau?“ (Jeggle-Merz 2000, 364 f.).

      In diesen gottesdienstlichen Feiern СКАЧАТЬ