Название: Menschen im Krieg – Gone to Soldiers
Автор: Marge Piercy
Издательство: Автор
Жанр: Книги о войне
isbn: 9783867548724
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Manchmal fühle ich mich zur Lehrerin berufen, weil ich die Begabung dafür habe, und ich halte das für eine ebensolche Begabung wie die zur Schauspielerei, die ich gleichfalls zu besitzen glaube. Maman sagt mir, dass alle jungen Mädchen Schauspielerinnen werden wollen, weil sie sich vorstellen, das brächte Glanz und Ruhm. Ich weiß, dass es harte Arbeit ist, eine andere Persönlichkeit anzunehmen. Maman hält mich für naiver, als ich bin. Beide Begabungen erfordern, andere zu verstehen, und beide erfordern eine besondere Art der Demut. Maman meint, es ist Egoismus, der mir den Wunsch eingibt, Schauspielerin zu werden, aber ich sehe es als eine Art Selbstverleugnung, worin meine eigene Persönlichkeit sich dem Charakter einer anderen unterordnet, einer Berenice, einer Phädra, einer Julia.
Literatur zu unterrichten heißt gewissermaßen, sie darzustellen. Beide Gaben beeinflussen und ergänzen einander, aber ich fürchte, beide Begabungen zu haben ist so schlimm, wie keine zu haben. Maman hat etwas Grausames zu mir gesagt, als ich ihr gegenüber meine Zweifel erwähnte, meiner Berufung zu folgen. Sie sagte, ich nähme mein hübsches Aussehen viel zu ernst. Seitdem habe ich mich einer Selbstdisziplin unterworfen, die wenigstens mir beweisen soll, wie sehr sie sich in ihrer Einschätzung meiner Ernsthaftigkeit irrt. Ich habe mir die ganze Woche lang verboten, in den Spiegel zu schauen. Wenn ich mir die Haare kämme, tue ich es nur mit dem Tastsinn. Niemand in der Familie hat meine neue Disziplin bemerkt, aber das ist mir recht, denn wenn ich sie erklärte, würde ich bestimmt für meine Anstrengungen verspottet werden.
Ich verstehe nie, was die Leute meinen, wenn sie mich hübsch nennen, denn wenn ich in meine Augen schaue, sehe ich Verzweiflung, Entzücken, Freude, Trauer, eine gründlich forschende Neugier, Mitgefühl, einen distanzierten, fragenden Geist; Chaos und Kampf. Marie Charlotte ist hübsch. Sie hat ein gelassenes, reines Gemüt, in dem unumstößliche Ideen zur Ruhe kommen, und sie ist mit ihnen zufrieden, so wie ich mit den Möbeln in meiner Mansardenkammer zufrieden bin. Aber ich glaube, mein Gesicht ist so wandelbar wie meine Seele. Vielleicht kann ich nur als Schauspielerin diese Tiefen und Höhen enthüllen, diese Stürme, die unsichtbar toben und mich zutiefst durchrütteln. Wenn andere mich hübsch nennen, meinen sie mir zu schmeicheln, aber ich fühle mich geschmälert, unsichtbar hinter der Maske, die sie erschaffen, nicht ich.
21 février 1940
Papa hat seinen Gestellungsbefehl, und wir sind alle erschüttert. Er ist sehr fröhlich und sagt, wir sollen uns keine Sorgen machen, es sei nicht anders, als ginge er in ein Ferienlager. Es ist wahr, der Kriegszustand ist bisher friedlich gewesen, und ich denke, die sensationslüsterne Berichterstattung der ersten Wochen ist verklungen angesichts der Wirklichkeit des modernen Krieges, der hauptsächlich eine Angelegenheit des Disputierens und des Sitzens zu sein scheint. Das entsetzlich eisige Wetter geht weiter, der härteste Winter, an den ich mich erinnern kann, als beklagte die Natur unsere Torheit in dieser langen, lächerlichen drôle de guerre.
Ich habe mich Papa in letzter Zeit entfremdet gefühlt, aber jetzt wünsche ich mir, wir könnten uns einander besser mitteilen. Unsere Meinungsverschiedenheiten beruhen in Wahrheit darauf, dass Papa es vorzieht, sich kulturell einzugrenzen, während ich versuche, meinen Horizont zu erweitern. Ich glaube, wir haben einander den Streit über das Farband-Picknick letzten Sommer nie verziehen. Ich weiß, dass ich recht hatte, aber vielleicht habe ich den Sachverhalt zu unverblümt dargestellt. Schließlich habe ich nichts mit einem Haufen bäurischer Jünger des einfachen Lebens zu tun, nur weil sie jüdisch sind. Jüdisch zu sein ist auch eine Sache des Zufalls. Ich bin jüdisch geboren worden, aber was bedeutet das? Als Religion finde ich es absurd. Als Speisegesetz archaisch! Mir wird gesagt, diese polnischen Flüchtlinge, die Balabans aus Kozienice, sind meine Tante, mein Onkel, meine Kusinen, aber ich kann mich mit ihnen nicht einmal über die simpelsten Dinge unterhalten, über Tische und Stühle, geschweige denn über meine Gedanken, meine Gefühle oder meine Ambitionen.
Ich verstehe Papas Engagement in der Poale-Zion nicht. Die Vorstellung, dass wir uns alle aufmachen und in den Orient gehen, um Dattelbauern zu werden, ist ein Hirngespinst, das ich keine fünf Minuten ernst nehmen kann. Papa ist immer Sozialist gewesen, aber seit zwei Jahren hat er sich für den törichten Zionismus engagiert. Ich könnte mir vorstellen, dass er von der Armee ohne dieses Gepäck heimkommen wird. Er braucht mehr Kontakt mit intelligenten Franzosen, die sich mit modernen Ideen auseinandersetzen. Seine Intelligenz ist größer, als für seine Fabrikarbeit benötigt wird, deshalb tendiert sein Denken zu Disziplinlosigkeit.
Papa hat große Kraft, was manchmal wundervoll ist und manchmal peinlich. Ich weiß immer noch nicht, ob ich ihn für den Vorfall im letzten Herbst bewundern soll oder nicht. Wir warteten in einer Menschenmenge darauf, dass die mairie ihre Pforten öffnete, und als es zwanzig Minuten lang nicht geschah, warteten alle weiter und murrten. Und Papa ist einfach zur Spitze der Schlange vorgegangen und hat die Tür aufgestoßen. Sie war die ganze Zeit unverschlossen!
Trotzdem traf mich sein Gerede, ich solle mich mit Jungens »meiner eigenen Art« treffen, als ordinär und geschmacklos und obendrein völlig unempfänglich für die Person, die ich wirklich bin. Ich verstehe nicht, was mir ein künftiger Traktorfahrer zu sagen haben könnte oder was ich Papas Ansicht nach mit ihm gemein haben soll. Das ist eine von diesen monomanischen Zwangsvorstellungen. Wenn Papa und sein copain Georges zusammensitzen, können sie manchmal nur darüber reden, wer alles Jude ist und wer nicht. Das erinnert mich an dieses Luder Suzanne, nachdem sie mit ihrem ebenso ordinären Freund geschlafen hatte. Da ging sie die Straße entlang und rätselte, welche noch Jungfrau war und welche nicht.
Maman hat furchtbare Angst und wird viel Beruhigung und Trost brauchen, das sehe ich schon. Die Zwillinge heulen und klammern. Ich komme mir wie die Einzige mit einem kühlen Kopf vor!
16 juin 1940
Tatsächlich, die Deutschen sind hier, und es ist kein Massaker oder Blutbad, obwohl sie uns gezwungen haben, die Uhren eine Stunde vorzustellen, damit wir deutsche Zeit haben. Es ging ruhig und geordnet zu, kaum ein Schuss ist gefallen, und alle sind ein wenig betäubt. Ich sah einige gutgekleidete Menschen den vorbeimarschierenden deutschen Truppen zujubeln. Die schienen im Großen und Ganzen sauber und manierlich. Ich denke, unsere Angst ist von den Zeitungen aufgeblasen worden, die nichts anderes zu tun haben, als Sensationsgier zu erzeugen. Ich bin überzeugt, Maman schämt sich, die Zwillinge mit ihrem Chef M. Cariot in den Süden nach Orléans geschickt zu haben.
Ich habe mich der Suche nach dem Allgemeinen, dem Inbild des Allgemeingültigen verschrieben, denn nur so können wir uns rigoros aus dem Morast des zufälligen Besonderen erheben. Meiner Ansicht nach ist Patriotismus nicht nur eine Zufluchtsstätte für Schufte, sondern auch für Idioten und solche, die ihr ganzes Denken jeden Morgen vorgefertigt aus den geistlosen Zeitungen kaufen. Alle paar Jahrzehnte zetteln Regierungen Kriege an und versetzen die Menschen in Raserei, nur damit wir nicht die Unzulänglichkeiten unserer eigenen Seite erkennen, die Grundlagen unserer Gesellschaft in Frage stellen und vernünftige Institutionen und Gesetze fordern. Ich bin überzeugt, dass die Deutschen – abgesehen davon, dass sie eine andere Sprache sprechen – sich von uns hauptsächlich insoweit unterscheiden werden, wie wir uns als Individuen voneinander unterscheiden. Wir sind zwei benachbarte Länder, die anscheinend nichts Besseres zu tun haben, als alle paar Jahre übereinander herzufallen, eine große Anzahl junger Männer hinzumetzeln und dabei die Landschaft zu verwüsten. Ich nehme an, wenn wir den Mut hätten, die Wirklichkeit in Augenschein zu nehmen, statt alte Klischees zu wiederholen, dann würden wir feststellen, dass die Deutschen ein Volk sind wie wir, gut, schlecht und gleichgültig im selben Maße, wie wir es sind.
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