Название: Menschen im Krieg – Gone to Soldiers
Автор: Marge Piercy
Издательство: Автор
Жанр: Книги о войне
isbn: 9783867548724
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»Mame«, sagte Ruthie gerade, »bei dem Schnee kannst du nicht draußen rumrennen. Du holst dir noch den Tod.«
Tante Rose war eine rundliche Frau, molliger als Maman und viel älter, eine der vier Schwestern aus Kozienice in Polen. Ihr Haar war immer noch lacklederschwarz, aber ihr Gesicht war verrunzelt wie eine Backpflaume. Onkel Morris war mit zwölf Jahren rübergekommen, und alle sagten, er sprach, als wäre er in Amerika geboren, aber Tante Rose war erst mit achtzehn in die Vereinigten Staaten gekommen und sprach mit einem Beiklang, der sie verriet. Sie hatte eine tiefe, würzige Stimme. Naomi liebte diese Stimme, wenn Tante Rose nicht gerade schimpfte, eine Stimme, bei der sie an würziges Winternaschwerk denken musste. Nelken, Schokolade, Zimt.
»Ich will nur zur Markthalle und sehen, was heute günstig ist. Zwei kleine Fahrten mit der Straßenbahn. Heute ist Mittwoch, die harte Mitte der Arbeitswoche. Ich dachte an ein Stück Rind für gedempte flaisch oder wenigstens ein Schmorgericht.«
»Mame, tu mir einen Gefallen. Kauf das Fleisch an der Ecke.«
»An der Ecke ist es pro Pfund zwei Cent teurer.«
»Bei dem Schnee heute kauf es an der Ecke. Bitte, Mame. Mir zuliebe.«
»Gut«, sagte Tante Rose und strich ihrer einzigen Tochter über den Kopf. Naomi wusste, Tante Rose wartete, bis Ruthie die Woodward-Avenue-Straßenbahn zur Arbeit genommen hatte, und ging dann mit ihren Einkaufstaschen los, um für ihr weniges Geld so viel wie möglich zu kaufen. »Vergiss nicht das schöne Mittagessen, das ich dir eingepackt habe.«
Naomi stellte das letzte bisschen Hafergrütze für den Kater hinunter, der alles rasch und leise verschlang. Sie verstanden sich gut.
Jeden Tag aß Ruthie hastig ihre Brote aus der braunen Tüte im Frauenaufenthaltsraum. Dann eilte sie in die Stadtbücherei, um zu lernen. Ruthie hatte immer ein Buch in der Handtasche, das sie las, wenn sie Straßenbahn fuhr, wenn sie Suppe umrührte, wenn alle anderen Radio hörten.
Naomi war neugierig, ob Tante Rose daran gedacht hatte, ihr Pausenbrote zu machen, aber zu schüchtern, danach zu fragen. Ruthie sah sie an und schien ihre Gedanken zu lesen. »Mame, hast du Naomis Pausenbrote gemacht?«
»Warum soll ich sie nicht gemacht haben? Nur, weil ich’s einmal vergessen habe. In meinem Alter, kann mir da ein kleiner Fehler nicht vergessen und verziehen werden?«
»Was kriege ich?«, fragte Naomi. Maman würde jetzt sagen, sie sei frech, aber sie war neugierig. Hier rügte sie niemand für ihre Fragen, obwohl Onkel Morris sie ein bisschen aufzog, wenn er sie fragen hörte. Jeden Morgen machte Tante Rose drei verschiedene Mittagspakete, in drei verschiedenen Brotbüchsen und Thermoskannen.
»Heute wegen des Schnees schöne heiße Kohlsuppe. Dazu Brot und ein stickl Käse.«
Das war bestimmt der Borschtsch nur aus Roten Beten und Kohl, nicht der mit Rindfleisch. Naomi aß ihn gern, aber sie bekam davon Heimweh, weil Maman auch solch eine Suppe machte: eine Familiensuppe, von den Eltern gelernt. Sie konnte sie wahrscheinlich auch kochen, wenn sie wollte. Aber sie wollte nicht. Sie wollte sie gekocht bekommen, von Maman.
Sie zog ihre Gamaschen und Galoschen an, knöpfte ihren Mantel zu, nahm ihre Schreibhefte und den Ranzen für Bücher, die Thermoskanne, rot und mit einem Bild von Superman, und machte sich auf den Weg zur sechs Straßen entfernten Schule. Draußen war es noch dunkel, und die Laternen brannten, aber der Himmel wurde schon langsam hell.
Der Schnee fiel in großen, trägen Flocken, als hätte er alle Zeit der Welt, um die Stadt zuzudecken. Die geparkten Autos waren schon beschichtet. Erwachsene fuhren hier nicht Fahrrad oder Motorrad, sogar Fabrikarbeiter hatten Autos. Onkel Morris hatte eins, aus seiner eigenen Fabrik. Jeden Monat zahlte er dafür Geld, wie Miete, obwohl es nicht neu war und die Stoßstange schon eine Delle hatte und rostete. Papa hätte gerne ein Auto gehabt. Er konnte fahren. Früher, bevor die Nazis alles so schwer machten, waren sie manchmal mit Georges, dem Autoschlosser, in seinem alten Renault mit seiner Frau und seinem dicken, gutmütigen Sohn Razi aufs Land gefahren. Dann hatten ihre Eltern sich benommen wie Kinder, hatten gekichert und sich gekabbelt. Alle aßen Hühnchen und tranken Rotwein. Papa spielte Mundharmonika, und sie sangen in Französisch und Jiddisch.
Sie trabte vorbei an der koscheren Fleischerei von Brillen-Rosovskys Vater, wo Tante Rose nicht gern kaufte, weil sie ihn zu teuer fand, vorbei an dem Fischgeschäft, in dem Sandys Vater arbeitete, vorbei an dem Eisenwarenladen, an dem guten Brotgeruch von Fenniman’s Bäckerei und dem dunklen Biertunnel der Bar. Hier war der Bürgersteig schon matschig. Sie stapfte in die Schmelzpfützen. Sie errichtete beim Laufen Mauern um sich, rüstete sich für die Schule, wo Englisch schreiben und sprechen und lesen nur ein kleiner Teil ihrer Aufgaben war.
Der schwerste Teil war, wie die anderen Kinder zu sein, die ihr älter und zugleich jünger vorkamen, nur nicht wie zwölf, wie sie. Alle machten sich viel mehr aus Jungens, wussten Bescheid über Autos und Sport und Anziehsachen, über Radioprogramme und Comics. Für die anderen Kinder war der Krieg etwas im Radio, war weit weg und gehörte zu »Terry und die Piraten«, was auch sie sofort nach der Schule anstellte, gefolgt von »Käpten Mitternacht« und »Jack Armstrong, ein echt amerikanischer Junge«. Die waren alle nie mit Bomben beworfen worden. Hatten nie vor Angst gezittert, weil Flugzeuge im Tiefflug auf sie zukamen und mit Kugeln schossen, um zu töten. Hatten nie eine Mutter gesehen, die ein Baby ohne Kopf hielt. Hatten nie Menschen und Kühe tot auf den Feldern liegen sehen wie ekelhaftes, stinkendes Fleisch. Stellten sich den Krieg nicht als Feuersbrunst vor, die aus der Richtung kam, wo die Sonne aufging, so dass das Morgenrot von den Feuern entfernter Bomben zu kommen schien, von brennenden Städten, von einer Angst wie Rauch, den der Wind immer mit sich trug.
Bernice 1
Bernice und die Piraten
Bernice war in der Überzeugung aufgewachsen, ihr Name sei »Bernice-Professor-Coates’-Tochter«, etwa wie Kristin Lavransdatter, fiel ihr auf, als sie den Roman von der Undset las. Zu der Zeit war ihr Name schon seit Jahren zu »Arme-Bernice-Professor-Coates’-Tochter« erweitert worden, der arme, mutterlose Jeff und die arme, mutterlose Bernice.
Mutter war eine mollige, warme, schusselige Frau gewesen, der ständig Schals und Handschuhe herunterfielen und die stets eine voluminöse, aus den Nähten platzende lederne Handtasche, so rund und zylindrisch wie ein Flusspferd, mitschleppte und dazu eine mit Büchern und Strickzeug, Taschentüchern und Arzneien vollgepfropfte Reisetasche, nicht nur auf ihren allsommerlichen Europareisen, sondern auch bei Tagesausflügen nach Boston oder zu Abendbesuchen bei Freunden. Wer den Professor, hager, vorzeitig ergrauend, mit einem Spazierstock, den er hauptsächlich beim Treppensteigen benutzte, neben seiner fülligen, oft nachlässig gekleideten Frau Viola sah, der hielt ihn für den Kopf und sie für den Körper.
Und doch erinnerte sich Bernice, wie sich Viola bei den Donnerstagsessen mit zwei ihrer Freundinnen durch die Ilias und Pindar rezitiert und diskutiert hatte. Violas Latein und Griechisch waren dem des Professors weit überlegen, und Viola war auch keine taube Nuss auf seinem Spezialgebiet, den modernen europäischen Sprachen. Wenn der Professor seine Schützlinge – Studenten oder Klubfrauen oder Rentner oder Schullehrer – jeden Sommer in den Ferien auf eine Bildungsreise durch Europa führte, um die vornehme Armut seines Salärs aufzubessern, kamen aus Violas Tasche die Guides Bleues und die Baedeker, ergänzt durch Geschichte und Kunstgeschichte.
Viola war eine stattliche Frau gewesen, mit weitem Schoß und herzlicher, belustigter Stimme, eine Frau, der niemand zugetraut hätte, innerhalb eines Monats zu sterben, an doppelseitiger Lungenentzündung in einem scheußlichen, unvergesslichen Februar. СКАЧАТЬ