Название: Abenddämmerung im Westen
Автор: Wieland Becker
Издательство: Автор
Жанр: Философия
isbn: 9783957448095
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Der Aufstand der Juden des „Warschauer Ghettos“ vom 19. Mai 1943 kann nicht als Widerspruch dazu gesehen werden. Nach Monaten des Sterbens im Ghetto und den Transporten der Bewohner in die Vernichtungslager, beschlossen die Verbliebenen, sich zur Wehr zu setzen, wobei ihnen völlig klar war, dass sie, die ohnehin dem Tode Geweihten, mit ihrem bewaffneten Widerstand nur ihrem Sterben einen gänzlich anderen Sinn zu geben vermochten.
Die nach Millionen zählenden Gruppen der Opfer des Terrors unter Stalin waren dagegen den Verhaftungen, Folterungen und Massenhinrichtungen oder der Haft in den Gulags vollständig ausgeliefert. Schuldlos, aber hilflos auch deshalb, weil niemand wusste, ob, wann und warum er verhaftet werden würde. Hatte er nur die „falschen“ Bekannten, wurde er Opfer einer Denunziation oder wurde er einfach nur auf eine Liste gesetzt, weil er ein „Verdächtiger“ war, der in das „Schema“ der zu beseitigenden „Volksfeinde“ passte…
Die Unschuldigen mit den blutigen Händen
Das Verhalten der Täter steht im krassen Gegensatz zur Wehrlosigkeit ihrer Opfer. Zwar schrieb Goebbels in seinen Tagebüchern – im Wissen, was den NS-Staat wirklich ausmachte: „Wenn wir den Krieg verlieren, dann Gnade uns Gott.“, doch auf Gottes Gnade wollten sich aber weder die Generäle der Wehrmacht noch die Massenmörder in SS-Uniform und ihre zahllosen Mittäter verlassen. Bereits ab 1943 wurden im Generalstab der Wehrmacht Strategien entwickelt, um sich nach dem Krieg als redliche Soldaten, die nur ihren Befehlen gehorcht hätten, zu präsentieren. Insbesondere in SS-Führungskreisen wurden Vermögen ins neutrale Ausland verbracht und Fluchtpläne entwickelt. Man war auf den „Tag X“ vorbereitet. Schuldgefühle oder Reue waren angesichts des organisierten Schweigens gefährlich und ohnehin selten, selbst während der „Nürnberger Prozesse“.
Wirklich Unschuldige können definitiv keine Strategie zu ihrer Verteidigung entwickeln, weil es unmöglich ist, sich für etwas zu verteidigen, was man nicht getan hat. Demgegenüber haben wirklich Schuldige mehr als genug Gründe und „Möglichkeiten“, Strategien zu entwickeln, Zeugnisse ihrer Verbrechen verschwinden zu lassen und sich gegenseitig zu „entlasten“.
Während einige der exponierten Führungskräfte als überführte Kriegsverbrecher hingerichtet oder zu langen Zuchthausstrafen verurteilt wurden, waren die Eichmanns, Barbies und Mengeles untergetaucht, um dann mit vielen ihrer Mittäter mit Unterstützung aus dem Vatikan über die so genannte „Rattenlinie“ nach Südamerika oder Vorderasien zu gelangen, wo sie über Jahrzehnte unbehelligt lebten.
Der „Kalte Krieg“ hatte begonnen und die westlichen Staaten trafen eine schwerwiegende Richtungsentscheidung: Da der Antikommunismus gesetzt war – angesichts der Furcht des freien Westens vor der kommunistischen Großmacht Sowjetunion – entschied man sich gegen eine politische Formel „Antikommunismus und Antifaschismus“, sondern formulierte eine Alternative „Antikommunismus oder Antifaschismus“ und eliminierte somit den Antifaschismus als politische Verpflichtung. Das hatte u. a. zur Folge, dass in der BRD die Nazi-Eliten rehabilitiert und wieder in ihre einstigen Funktionen „eingesetzt“ wurden – in Wirtschaft, Justiz, Diplomatischem Dienst, Bundeswehr und Politik.
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In der Sowjetunion beharrten die politisch Hauptverantwortlichen neben Stalin, also Molotow, Woroschilow und ihre „Genossen“ bis an ihr Lebensende darauf, dass der „Große Terror“ berechtigt und notwendig, also rechtens gewesen wäre. Da in dieser Zeit auch die NKWD-Verantwortlichen und ihre Folterknechte auf Stalins Befehl liquidiert wurden, verblieben nur diejenigen, die unter Berija ihr mörderisches Tun betrieben hatten, am Leben, das sie, im Alter mit angemessenen Pensionen wohlversorgt, in Ruhe verbringen konnten. Berija selbst wurde nicht etwa als Verbrecher gegenüber den sowjetischen Bürgern hingerichtet, sondern als ausländischer Agent…
Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht, enthält aber genügend Beispiele für die Vernichtung ganzer Völker und bedeutender Kulturen – der Maya und Inka in Südamerika im Zeichen des Kreuzes oder der Indianer Nordamerikas… Damals rühmten sich die Sieger ihrer Taten, manche ihrer Nachkommen tun dies auch heute noch; an Begründungen ist – wie stets – kein Mangel.
Bis heute einzigartig handelte Nelson Mandela, der durch seine außergewöhnliche, integere Persönlichkeit und die Glaubwürdigkeit seiner Worte erreichte, dass es nach dem Ende der Apartheid zu einer Aussöhnung zwischen der bis dahin herrschenden rassistischen, weißen Oberschicht und den über Jahrzehnte ausgebeuteten, diskriminierten und rechtlosen Farbigen in Südafrika kam. Ein säkulares und bislang beispielloses Ereignis, von dem wahrscheinlich Millionen hoffen, dass es sich wiederholen könne.
IV. Man wird nicht als Soldat geboren
Es ist schon sehr lange her, dass ich – zum ersten, aber nicht zum letzten Mal – eine Fotodokumentation über den 1.Weltkrieg mit dem Titel „Kamerad im Westen“ in die Hand nahm. Zuerst fand ich Fotos vom Kriegsbeginn: Verlesung der Kriegserklärung in Berlin, Soldatenverbände auf den Straßen, begleitet von einer jubelnden Menschenmenge, oder in Eisenbahnwaggons, die mit kühnen Sprüchen, „Auf nach Paris“ etwa, beschrieben waren. Die folgenden Fotografien dokumentierten die Realität dieses Krieges, wie ihn der Soldat tagtäglich erlebte oder wie er auf dem „Feld der Ehre“ starb.
Ein Foto, aufgenommen aus einem deutschen Schützengraben, zeigt anstürmende französische Soldaten, die im Maschinengewehrfeuer vor den Stacheldrahtverhauen niedergemäht werden. Wie später gesehene Filmaufnahmen bestätigten, kletterten die jeweiligen Angreifer bei einem solchen Sturmangriff aus ihren Gräben und marschierten in Schützenketten, zumeist ohne jegliche Deckung, auf die gegnerischen Gräben zu, wo sie, wenn sie nah genug waren, reihenweise niedergeschossen wurden. Über Monate und Jahre ging das im Stellungskrieg nach diesem Muster. Hunderttausende starben oder wurden verwundet, manche von ihnen von Kameraden oder Sanitätern gerettet. „Geländegewinne“ blieben die Ausnahme. Und das alles nur, weil irgendwo, weit entfernt von der Front, in den Generalstäben wieder mal ein Sturmangriff geplant und befohlen wurde. Wie muss den Soldaten zumute gewesen sein, wenn sie auf Befehl losmarschierten, den fast sicheren Tod vor Augen?
Warum ist es immer aufs Neue möglich, Abertausende Menschen zu einer mörderischen Soldateska zu deformieren?
Wie bringt man einen Menschen, der freiwillig oder per Gesetz zum Soldaten geworden ist, dazu, bedenkenlos, ja sogar mit Stolz zu töten? Auch nach 1945 geschah genau das irgendwo auf der Welt täglich. Von wegen „Frieden auf Erden“ – Hunderttausende wurden zu Mördern in Uniform – und Millionen Soldaten und Millionen Zivilisten wurden ihre Opfer.
Die radikalste Methode wurde in der Zeit der Antike in Sparta durchgesetzt. Alle Knaben wurden noch im Kindesalter aus ihren Familien genommen und kaserniert. СКАЧАТЬ