Название: 1984
Автор: George Orwell
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Reclam Taschenbuch
isbn: 9783159618609
isbn:
Winston wusste nicht, warum Withers in Ungnade gefallen war. Vielleicht wegen Korruption oder Unfähigkeit. Womöglich wollte der Große Bruder bloß einen allzu beliebten Untergebenen loswerden. Vielleicht war Withers oder jemand aus seinem näheren Umfeld abweichlerischer Tendenzen verdächtigt worden. Oder aber – und das war am wahrscheinlichsten – das Ganze war nur deshalb passiert, weil Säuberungen und Vaporisationen notwendiger Bestandteil der Regierungsmaschinerie waren. Der einzig brauchbare Hinweis fand sich in den Worten »nennt unpersonen«, die darauf hindeuteten, dass Withers bereits tot war. Man konnte nicht immer davon ausgehen, dass dies der Fall war, wenn Leute verhaftet wurden. Manchmal wurden sie wieder freigelassen und durften ein oder zwei Jahre in Freiheit verbringen, bevor sie hingerichtet wurden. Ganz selten kam es vor, dass jemand, den man schon lange für tot gehalten hatte, plötzlich wie ein Geist bei einer öffentlichen Verhandlung erschien, wo er dann aufgrund seiner Aussagen Hunderte anderer belastete, ehe er von der Bildfläche verschwand, diesmal für immer. Withers jedoch war bereits eine Unperson. Er existierte nicht: Er hatte nie existiert. Winston kam zu dem Schluss, dass es nicht ausreichte, einfach die Zielrichtung der Rede des Großen Bruders ins Gegenteil zu verkehren. Besser wäre es, wenn die Rede von etwas handelte, das in keinem Zusammenhang zu dem ursprünglichen Thema stand.
Er könnte die Rede in die gängige Beschuldigung von Verrätern und Gedankenverbrechern umwandeln, aber das wäre ein bisschen zu offensichtlich; einen Sieg an der Front zu erfinden oder einen Erfolg bei der Überproduktion im Neunten Dreijahresplan könnte die Aufzeichnungen wiederum verkomplizieren. Was man brauchte, war ein reines Fantasieprodukt. Plötzlich kam ihm, wie gerufen sozusagen, das Bild eines gewissen Genossen Ogilvy in den Sinn, der kürzlich unter heldenhaften Umständen in der Schlacht gefallen war. Gelegentlich widmete der Große Bruder seinen Tagesbefehl dem Gedenken eines gewöhnlichen, einfachen Parteimitglieds, dessen Leben und Sterben er als nachahmenswertes Beispiel hochhielt. An diesem Tag sollte er des Genossen Ogilvy gedenken. Es gab zwar gar keinen Genossen Ogilvy, aber ein paar gedruckte Zeilen und einige gefälschte Fotografien würden diese Person flugs ins Leben rufen.
Winston dachte einen Moment nach, zog dann den Sprechschreiber zu sich und begann, im üblichen Stil des Großen Bruders zu diktieren: einem Stil, der gleichermaßen militärisch wie pedantisch und leicht nachzuahmen war, weil der Große Bruder gern Fragen stellte, um sie dann prompt selbst zu beantworten (»Welche Lehren ziehen wir aus diesem Sachverhalt, Genossen? Die Lehre – die auch ein Grundprinzip des Engsoz darstellt –, nämlich dass« usw. usw.).
Im Alter von drei Jahren hatte der Genosse Ogilvy sämtliches Spielzeug abgelehnt außer einer Trommel, einer Maschinenpistole und einem Modell eines Hubschraubers. Mit sechs – aufgrund einer Lockerung der Regeln ein Jahr früher als sonst üblich – war er den Spionen beigetreten; mit neun Jahren war er Zugführer geworden. Mit elf hatte er seinen Onkel bei der Gedankenpolizei denunziert, nachdem er ein Gespräch belauscht hatte, das seiner Ansicht nach kriminelle Absichten erkennen ließ. Mit siebzehn war er Bezirksleiter des Junioren-Anti-Sex-Bunds geworden. Mit neunzehn hatte er eine Handgranate entworfen, die daraufhin vom Ministerium für Frieden übernommen worden war und gleich beim ersten Testeinsatz einunddreißig eurasische Gefangene mit nur einem Schlag getötet hatte. Mit dreiundzwanzig war er im Kampf gefallen. Während eines Fluges über dem Indischen Ozean, im Gepäck wichtige Nachrichten, verfolgt von feindlichen Düsenjets, hatte er sich das Maschinengewehr umgehängt und war mitsamt den Nachrichten aus dem Hubschrauber ins Meer gesprungen – ein Ende, sagte der Große Bruder, über das man nicht nachdenken könne, ohne Neidgefühle zu hegen. Der Große Bruder fügte noch ein paar Worte hinzu, wie anständig und zielstrebig Genosse Ogilvy im Leben gewesen sei. Er war überzeugter Abstinenzler und Nichtraucher gewesen, hatte keine andere Erholung gekannt als täglich eine Stunde in der Sporthalle und hatte gelobt, zölibatär zu leben, war er doch überzeugt davon, dass die Ehe und die Versorgung einer Familie mit der Pflichterfüllung rund um die Uhr unvereinbar seien. Für ihn gab es keine anderen Gesprächsthemen als die Grundprinzipien des Engsoz und kein anderes Ziel im Leben als die Niederwerfung des eurasischen Feindes und die Jagd auf Spitzel, Saboteure, Gedankenverbrecher und Verräter aller Art.
Winston überlegte ernsthaft, ob er dem Genossen Ogilvy den Orden für besondere Dienste verleihen sollte: Letzten Endes entschied er sich dagegen, da dieser Schritt unnötige Querverweise nach sich ziehen würde.
Erneut schaute er zu seinem Konkurrenten in der gegenüberliegenden Nische hinüber. Etwas schien ihm mit Gewissheit zu sagen, dass Tillotson mit derselben Aufgabe beschäftigt war wie er. Man konnte unmöglich wissen, wessen Version schlussendlich übernommen werden würde, aber er war zutiefst davon überzeugt, dass es die seine sein würde. Genosse Ogilvy, der noch vor einer Stunde nicht einmal in der Vorstellung existiert hatte, war jetzt eine Tatsache. Es kam ihm eigenartig vor, dass man tote Menschen erschaffen konnte, nicht aber lebende. Genosse Ogilvy, der nie in der Gegenwart existiert hatte, existierte nun in der Vergangenheit, und sobald der Akt der Fälschung vergessen wäre, würde er genauso echt und nachweislich existieren wie Karl der Große und Julius Cäsar.
5
In der niedrigen Kantine, tief unter der Erde, bewegte sich die Schlange zur Mittagsstunde nur langsam vorwärts. Im Raum war es bereits sehr voll, und es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Aus dem Lüftungsgitter an der Ausgabetheke wallten Schwaden des Eintopfgerichts mit einem säuerlich-metallischen Geruch herüber, der die Ausdünstungen des Victory-Gins nicht ganz überdeckte. Am anderen Ende des Raums befand sich eine kleine Bar, eigentlich nicht mehr als eine Nische in der Wand, an der man einen großen Schluck Gin für zehn Cent kaufen konnte.
»Genau dich hab ich gesucht«, sagte jemand in Winstons Rücken.
Winston drehte sich um. Es war sein Freund Syme, der in der Forschungsabteilung arbeitete. »Freund« war vielleicht nicht die richtige Bezeichnung. Heutzutage hatte man keine Freunde mehr, man hatte Genossen: Es gab aber einige Genossen, deren Gesellschaft angenehmer war als die anderer. Syme war Philologe, ein Spezialist für Neusprech. Tatsächlich gehörte er zu dem riesigen Team von Experten, die im Augenblick damit beschäftigt waren, die elfte Auflage des Neusprechwörterbuchs zusammenzustellen. Er war ein kleiner Mann, kleiner als Winston, hatte dunkles Haar und große, hervortretende Augen, die traurig und spöttisch zugleich wirkten und einen genau zu mustern schienen, wenn er sich mit einem unterhielt.
»Ich wollte dich fragen, ob du noch ein paar Rasierklingen hast«, sagte er.
»Keine einzige!«, sagte Winston mit schuldbewusster Hast. »Ich habe überall versucht, welche zu bekommen. Es gibt einfach keine mehr.«
Dauernd wurde man von Leuten nach Rasierklingen gefragt. In Wahrheit hatte er noch zwei unbenutzte, die er zurückhielt. Seit Monaten waren sie Mangelware. Ständig gab es irgendwelche notwendigen Artikel, die die Parteiläden nicht liefern konnten. Manchmal waren es Knöpfe, manchmal Stopfwolle, dann wiederum Schnürsenkel; im Augenblick waren es Rasierklingen. Wenn überhaupt, kam man nur an welche heran, wenn man sich mehr oder weniger heimlich auf dem »freien« Markt etwas zusammenschnorrte.
»Ich benutze dieselbe Klinge seit sechs Wochen«, fügte er verlogen hinzu.
Die Schlange bewegte sich wieder ein Stück weiter vorwärts. Als sie zum Stehen kamen, drehte Winston sich wieder zu Syme um. Beide nahmen sich ein schmieriges Metalltablett von einem Stapel СКАЧАТЬ