Название: 1984
Автор: George Orwell
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Reclam Taschenbuch
isbn: 9783159618609
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»Warum haben sie das gemacht?«, fragte Winston ein wenig erschrocken. Parsons fuhr triumphierend fort:
»Die Kleine wollte sicherstellen, ob er nicht vielleicht ein feindlicher Agent war – hätte ja mit einem Fallschirm abgesprungen sein können. Aber jetzt kommt’s, alter Junge. Was, denken Sie, hat sie überhaupt auf diese Fährte gebracht? Sie hat gesehen, dass der Mann so merkwürdige Schuhe anhatte – sie meinte, sie hat noch bei keinem solche Schuhe gesehen. Also ziemlich wahrscheinlich, dass es ein Fremder war. Ziemlich clever für ’ne Göre von sieben, was?«
»Was wurde aus dem Mann?«, sagte Winston.
»Das weiß ich natürlich nicht. Aber mich würde es nicht wundern, wenn –«, Parsons tat so, als würde er mit einem Gewehr auf jemanden zielen, und schnalzte mit der Zunge, um den Schuss zu imitieren.
»Gut«, sagte Syme halb abwesend, ohne von seinem Streifen Papier aufzuschauen.
»Wir dürfen eben keine Risiken eingehen«, stimmte Winston ihm pflichtgetreu zu.
»Das will ich meinen, schließlich haben wir Krieg«, sagte Parsons.
Wie zur Bestätigung tönte ein Trompetenstoß aus dem Telemonitor unmittelbar über ihren Köpfen. Diesmal handelte es sich aber nicht um die Verkündung eines militärischen Sieges, sondern lediglich um eine Bekanntmachung des Ministeriums für Fülle.
»Genossen!«, rief eine eifrige, jugendliche Stimme. »Aufgepasst, Genossen! Wir haben ruhmreiche Neuigkeiten für euch. Wir haben den Produktionskampf gewonnen! Die jetzt vorliegende Aufstellung der Produktion sämtlicher Kategorien von Konsumgütern belegt, dass der Lebensstandard im Verlauf des letzten Jahres um nicht weniger als zwanzig Prozent gestiegen ist. In ganz Ozeanien kam es heute Morgen zu unkontrollierten, spontanen Demonstrationen, als Arbeiter aus Fabriken und Büros marschierten und mit Transparenten durch die Straßen zogen, um ihre Dankbarkeit gegenüber dem Großen Bruder zum Ausdruck zu bringen, für das neue, glückliche Leben, das seine weise Führerschaft uns beschert hat. Hier folgen einige der uns vorliegenden Zahlen. Nahrungsmittel –«
Die Phrase »unser neues, glückliches Leben« wiederholte sich mehrmals. In letzter Zeit war dies die Lieblingswendung des Ministeriums für Fülle gewesen. Parsons, dessen Aufmerksamkeit durch den Trompetenstoß geweckt worden war, saß da und lauschte mit einer Art feierlichem Glotzen, in einer gewissen erbaulichen Langeweile. Er konnte den Zahlen nicht folgen, war sich aber bewusst, dass sie in gewisser Weise Anlass zur Zufriedenheit boten. Er hatte eine große, schmutzige Pfeife hervorgekramt, die schon bis zur Hälfte mit verkohltem Tabak gefüllt war. Angesichts einer Tabakration von 100 Gramm pro Woche war es kaum je möglich, den Pfeifenkopf bis zum Rand zu stopfen. Winston rauchte eine Victory-Zigarette, die er sorgfältig waagerecht hielt. Die nächste Ration wurde erst morgen zugeteilt, und er hatte nur noch vier Zigaretten übrig. Im Moment blendete er die entfernteren Geräusche aus und lauschte dem Kram, der aus dem Telemonitor strömte. Offenkundig hatte es sogar Demonstrationen gegeben, um dem Großen Bruder für die Erhöhung der Schokoladenration auf zwanzig Gramm pro Woche zu danken. Dabei war erst gestern, sinnierte er, verkündet worden, die Ration werde auf zwanzig Gramm pro Woche herabgesetzt. War es möglich, dass die Leute das einfach so schluckten, nach nur vierundzwanzig Stunden? Ja, sie schluckten es. Parsons schluckte es mühelos, mit dem Stumpfsinn eines Tieres. Die augenlose Kreatur am anderen Tisch schluckte es fanatisch, leidenschaftlich, mit dem rasenden Verlangen, jeden zur Strecke zu bringen, zu denunzieren und zu vaporisieren, der auch nur andeutete, die Ration habe letzte Woche noch bei dreißig Gramm gelegen. Auch Syme schluckte es – aber auf komplexere Weise, mithilfe von Doppeldenk. War er demnach der Einzige, der ein Erinnerungsvermögen besaß?
Die fabelhaften Statistiken drangen weiterhin aus dem Telemonitor. Im Vergleich zum Vorjahr gab es mehr Lebensmittel, mehr Kleidung, mehr Wohnraum, mehr Einrichtungsgegenstände, mehr Kochtöpfe, mehr Treibstoff, mehr Schiffe, mehr Hubschrauber, mehr Bücher, mehr Neugeborene – es gab von allem mehr, ausgenommen Krankheiten, Verbrechen und Wahnsinn. Jahr für Jahr und Minute für Minute ging es mit jedem und allem rasant aufwärts. Wie zuvor Syme hatte auch Winston den Löffel genommen und stocherte damit in der blässlichen Soße, die auf dem Tisch zerlief, wobei er eine lange Schliere zu einem Muster formte. Verbittert sinnierte er über die physische Beschaffenheit des Lebens. War es immer schon so gewesen? Hatte das Essen immer so geschmeckt? Er blickte sich in der Kantine um. Ein überfüllter Saal mit niedrig hängender Decke, die Wände schmierig vom direkten Kontakt mit unzähligen Leibern; zerschrammte Metalltische und Stühle, die so dicht beieinander standen, dass die Leute beim Sitzen mit den Ellbogen zusammenstießen; verbogene Löffel, Tabletts mit Dellen, klobige weiße Tassen; sämtliche Oberflächen schmierig, Schmutz in jedem Spalt; dazu ein säuerlicher Geruch, ein Gemisch aus schlechtem Gin, schlechtem Kaffee, metallisch schmeckendem Eintopf und schmutziger Kleidung. Ständig rebellierten der Magen und die Haut, mit einem Gefühl, um etwas betrogen worden zu sein, auf das man eigentlich ein Anrecht hatte. Es stimmte, dass er keine Erinnerung daran hatte, dass es je groß anders gewesen wäre. In den Zeiten, an die er sich genau erinnern konnte, hatte es nie genug zu essen gegeben, man hatte nie Socken oder Unterwäsche ohne Löcher gehabt, die Möbel waren immer schon ramponiert und wackelig gewesen, die Zimmer schlecht geheizt, die U-Bahnen überfüllt, die Häuser fielen in sich zusammen, das Brot hatte eine dunkle Farbe, Tee war eine Seltenheit, der Kaffee schmeckte scheußlich, Zigaretten waren Mangelware – nichts war billig und im Überfluss zu bekommen außer dem synthetischen Gin. Und obwohl es natürlich schlimmer wurde, wenn der Körper alterte, war es nicht ein Anzeichen dafür, dass dies nicht die natürliche Ordnung der Dinge war, wenn es einem schwer ums Herz wurde angesichts der Unbehaglichkeit und des Drecks und des Mangels, der endlosen Winter, der eigenen klammen Socken, der Aufzüge, die nie funktionierten, des kalten Wassers, der körnigen Seife, der zerbröselnden Zigaretten und des Essens mit dem seltsamen, üblen Geschmack? Warum sollte man das für unerträglich halten, sofern man nicht eine Art vererbte Erinnerung besaß, dass die Dinge einmal anders gewesen waren?
Er blickte sich erneut in der Kantine um. Fast alle sahen hässlich aus und wären auch dann noch hässlich gewesen, wenn sie etwas anderes getragen hätten als die eintönigen blauen Overalls. Auf der gegenüberliegenden Seite des Saals saß ein kleiner, sonderbarer Mann, der etwas Käferartiges an sich hatte, allein an einem Tisch und trank eine Tasse Kaffee, seine kleinen Augen huschten argwöhnisch von rechts nach links. Wenn man sich nicht mit wachen Augen umschaute, dachte Winston, wie einfach war es dann, daran zu glauben, dass die körperliche Erscheinungsform, die von der Partei zum Ideal stilisiert worden war – große, muskulöse Jungen und vollbusige Mädchen, blond, strotzend vor Leben, sonnengebräunt, sorglos – tatsächlich existierte und sogar vorherrschend war. In Wirklichkeit aber, zumindest soweit er das beurteilen konnte, war die Mehrzahl der Leute in Landefeld Eins eher klein, dunkelhaarig und nicht gerade von der Natur begünstigt. Seltsam, dass sich der käferartige Typus in den Ministerien ausbreitete: kleine untersetzte Männer, die schon früh im Leben korpulent wurden, mit kurzen Beinen, raschen, huschenden Bewegungen und teigigen, unergründlichen Gesichtern mit sehr kleinen Augen. Dieser Typus schien am besten unter der Herrschaft der Partei zu gedeihen.
Die Bekanntmachung des Ministeriums für Fülle endete mit einem weiteren Trompetenstoß und ging über in blechern klingende Musik. Parsons, von dem Zahlenbombardement zu einer vagen Begeisterung angeregt, nahm die Pfeife aus dem Mund.
»Das Ministerium für Fülle hat dieses Jahr wirklich gute Arbeit geleistet«, СКАЧАТЬ