1984. George Orwell
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Название: 1984

Автор: George Orwell

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Reclam Taschenbuch

isbn: 9783159618609

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СКАЧАТЬ auf einem Stockbett. Der alte Mann trug einen ordentlichen dunklen Anzug und hatte sich die schwarze Stoffmütze vom schlohweißen Haar geschoben: sein Gesicht war scharlachrot, seine Augen waren blau und voller Tränen. Er stank nach Gin. Seine Haut schien Gin statt Schweiß auszudünsten, und man hätte sich vorstellen können, dass die Tränen, die aus seinen Augen quollen, reiner Gin waren. Aber obwohl er leicht betrunken war, litt er auch an einem Kummer, der echt und unerträglich war. In seiner kindlichen Art begriff Winston, dass sich soeben etwas Furchtbares ereignet hatte, etwas, das jenseits aller Vergebung lag und nicht wiedergutgemacht werden konnte. Er schien auch zu wissen, was das war. Jemand, den der alte Mann liebte, vielleicht eine kleine Enkeltochter, war getötet worden. Alle paar Augenblicke wiederholte der alte Mann:

      »Wir hätt’n denen nich trauen soll’n. Hab ich’s nich immer gesagt, Mutter? Das kommt davon, wenn man denen traut. Hab ich ja immer gesagt. Wir hätt’n den Halunken einfach nicht trau’n soll’n.«

      Aber welchen Halunken sie nicht hätten trauen dürfen, daran konnte sich Winston nicht mehr erinnern.

      Etwa seit jener Zeit hatte es praktisch dauernd Krieg gegeben, obwohl es sich strenggenommen nicht immer um denselben Krieg gehandelt hatte. In seiner Kindheit war es mehrere Monate lang in London selbst zu wirren Straßenkämpfen gekommen, von denen ihm einige noch lebhaft vor Augen standen. Aber dem historischen Verlauf der ganzen Epoche nachzuspüren und festzustellen, wer wann gegen wen gekämpft hatte, wäre absolut unmöglich gewesen, da weder ein schriftlicher Beleg noch eine mündliche Überlieferung je eine andere Konstellation erwähnt hätte als die gegenwärtig geltende. Im Augenblick zum Beispiel, im Jahr 1984 (wenn es wirklich 1984 war), befand sich Ozeanien im Krieg mit Eurasien und war mit Ostasien verbündet. In keiner öffentlichen oder privaten Äußerung wurde je eingeräumt, dass die drei Mächte irgendwann einmal anders zueinandergestanden hätten. Tatsächlich jedoch, und das wusste Winston genau, war es gerade einmal vier Jahre her, dass Ozeanien Krieg gegen Ostasien geführt hatte und ein Bündnis mit Eurasien eingegangen war. Doch das war ein geheimes Wissen, das er auch nur deshalb besaß, weil sein Erinnerungsvermögen keiner ausreichenden Kontrolle unterlag. Offiziell hatte dieser Wechsel der Bündnispartner nie stattgefunden. Ozeanien befand sich im Krieg mit Eurasien: Deshalb hatte sich Ozeanien immer schon mit Eurasien im Krieg befunden. Der gegenwärtige Feind stand immer für das absolut Böse, und daraus folgte, dass mit diesem Feind jede vergangene oder zukünftige Übereinkunft undenkbar war.

      Das Beängstigende an der Sache war, überlegte er zum zehntausendsten Mal, während er seine Schultern schmerzhaft zurückzog (mit den Händen auf den Hüften versetzte er den Körper von der Taille aufwärts in kreisende Bewegungen, eine Übung, die angeblich gut für die Rückenmuskulatur sein sollte) – das Beängstigende daran war, dass all das wahr sein könnte. Wenn die Partei in die Vergangenheit eingreifen und von diesem oder jenem Ereignis behaupten konnte, es habe nie stattgefunden – war das dann nicht schrecklicher als Folter und Tod?

      Die Partei sagte, Ozeanien sei nie ein Bündnis mit Eurasien eingegangen. Er, Winston Smith, wusste zwar, dass Ozeanien vor gerade einmal vier Jahren ein Bündnis mit Eurasien eingegangen war. Aber wo gab es dieses Wissen? Nur in seinem eigenen Bewusstsein, das gewiss bald ausgelöscht werden würde. Und wenn alle anderen die Lüge akzeptierten, die die Partei verbreitete – wenn sämtliche Aufzeichnungen dieselbe Geschichte erzählten –, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde zur Wahrheit. »Wer die Vergangenheit kontrolliert«, lautete die Parteiparole, »kontrolliert die Zukunft – wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.« Und doch war die Vergangenheit, die ihrer Natur nach wandelbar war, nie verändert worden. Was immer heute wahr war, blieb wahr bis in alle Ewigkeit. So einfach war das. Man brauchte lediglich eine nicht abreißende Serie von Siegen über das eigene Erinnerungsvermögen. »Realitätskontrolle« nannten sie es; auf Neusprech: »Doppeldenk.«

      »Rührt euch!«, bellte die Übungsleiterin ein wenig freundlicher.

      Winston ließ die Arme sinken und füllte seine Lungen langsam wieder mit Luft. Sein Geist glitt in die labyrinthisch verzweigte Welt des Doppeldenk. Zu wissen und nicht zu wissen, sich der absoluten Wahrhaftigkeit bewusst zu sein, während man sorgsam ausgeklügelte Lügen erzählt, gleichzeitig zwei Ansichten aufrechtzuerhalten, die einander ausschließen, wissend, dass sie einander widersprechen, und trotzdem an beide zu glauben; Logik gegen Logik auszuspielen, das Moralische zurückzuweisen, es aber gleichzeitig für sich in Anspruch zu nehmen; zu glauben, die Demokratie sei unmöglich, die Partei jedoch die Hüterin der Demokratie; zu vergessen, was vergessen werden sollte, um es sich dann wieder ins Gedächtnis zu rufen, wenn es benötigt wurde, und es dann prompt wieder zu vergessen – und vor allem, diesen Prozessablauf auf den Prozess selbst anzuwenden. Das war der Höhepunkt der Raffinesse: bewusst die Unbewusstheit herbeizuführen, um sich dann wiederum des gerade vollzogenen Aktes der Hypnose nicht mehr bewusst zu sein. Allein den Begriff »Doppeldenk« zu verstehen, bezog die Anwendung des Doppeldenk mit ein.

      Inzwischen hatte die Übungsleiterin sie wieder zum Strammstehen aufgefordert. »Und jetzt wollen wir sehen, wer von uns seine Zehen berühren kann!«, sagte sie enthusiastisch. »Bitte aus der Hüfte heraus, Genossen. Eins-zwei! Eins-zwei! …«

      Winston hasste diese Übung, die ihm einen stechenden Schmerz von den Fersen bis hinauf zu den Pobacken sandte und oft dazu führte, dass er wieder einen Hustenanfall bekam. Seinem Nachsinnen kam das halbwegs angenehme Gefühl abhanden. Die Vergangenheit, so überlegte er, war nicht einfach verändert, sondern schlichtweg zerstört worden. Denn wie sollte man die offensichtlichste Tatsache beweisen, wenn außerhalb der eigenen Erinnerung keine Aufzeichnungen existierten? Er versuchte sich zu erinnern, in welchem Jahr er zum ersten Mal vom Großen Bruder gehört hatte. Er glaubte, es musste irgendwann in den 60er Jahren gewesen sein, aber es war nicht möglich, sich festzulegen. In der Geschichtsschreibung der Partei fungierte der Große Bruder natürlich als Führer und Hüter der Revolution von ihren Anfängen an. Nach und nach waren seine Großtaten zeitlich immer weiter zurückdatiert worden, bis sie in die sagenumwobene Epoche der 40er und 30er Jahre reichten, in denen noch die Kapitalisten mit ihren seltsam zylindrischen Hüten in großen glänzenden Automobilen oder Pferdewagen mit seitlicher Verglasung durch die Straßen Londons gefahren waren. Man konnte nicht wissen, wie viel an dieser Legende der Wahrheit entsprach und wie viel dazu erfunden wurde. Winston konnte sich nicht einmal erinnern, wann die Partei selbst erstmals in Erscheinung getreten war. Er glaubte nicht, den Begriff Engsoz jemals vor dem Jahr 1960 gehört zu haben, aber womöglich war er in seiner Altsprechform – nämlich als »Englischer Sozialismus« – bereits früher geläufig gewesen. Alles verschwamm im Nebel. Manchmal konnte man zwar eine klare Lüge benennen. So stimmte es zum Beispiel nicht, wie in den Geschichtsbüchern der Partei behauptet wurde, dass die Partei Flugzeuge erfunden hatte. Von frühester Kindheit konnte er sich an Flugzeuge erinnern. Aber man konnte nichts beweisen. Nie gab es irgendwelche Beweise. Nur einmal in seinem ganzen Leben hatte er einen unwiderlegbaren dokumentarischen Beweis für die Verfälschung einer historischen Tatsache in Händen gehalten. Und bei dieser Gelegenheit –

      »Smith!«, kreischte die bissige Stimme aus dem Telemonitor. »6079 Smith W.! Ja, Sie! Tiefer bücken, bitte! Das können Sie doch besser! Sie bemühen sich nicht richtig. Tiefer, bitte. So ist es schon besser, Genosse. Rühren, die ganze Einheit, und alle herschauen.«

      Heißer Schweiß brach Winston plötzlich aus allen Poren. Seine Miene blieb vollkommen undurchdringlich. Nur keine Bestürzung zeigen! Nur keine Abneigung erkennen lassen! Ein einziges Zucken der Augen konnte einen verraten. Er stand da und sah zu, während die Übungsleiterin die Arme über den Kopf hob und sich dann – man konnte nicht gerade sagen anmutig, aber mit bemerkenswerter Beweglichkeit und Effizienz – nach vorn beugte und mit den Fingerspitzen unter ihre Zehen fasste.

      »So, Genossen! So möchte ich es bei euch sehen. Schaut noch einmal her. Ich bin neununddreißig und habe vier Kinder. Aufpassen jetzt.« Sie beugte sich wieder nach vorn. »Seht ihr, meine Knie sind nicht gebeugt. Das schafft ihr auch alle, wenn ihr СКАЧАТЬ