Название: 1984
Автор: George Orwell
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Reclam Taschenbuch
isbn: 9783159618609
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»Ah, nun gut – dachte, ich frag Sie einfach mal, alter Junge.«
»Tut mir leid«, meinte Winston.
Die quakende Stimme vom Nachbartisch, die während der Bekanntmachung des Ministeriums zwischenzeitlich verstummt war, war von Neuem zu hören, genauso laut wie zuvor. Aus einem unerfindlichen Grund musste Winston plötzlich an Mrs Parsons denken, an ihr strähniges Haar und den Staub in den Falten ihres Gesichts. In spätestens zwei Jahren würden diese Kinder sie bei der Gedankenpolizei denunzieren. Mrs Parsons würde vaporisiert werden. Syme würde vaporisiert werden. O’Brien würde vaporisiert werden. Parsons hingegen würde nie vaporisiert werden. Auch das augenlose Wesen mit der quakenden Stimme würde nie vaporisiert werden. Die kleinen käferartigen Männer, die so flink durch die labyrinthischen Gänge der Ministerien huschten – auch sie würden nie vaporisiert werden. Und die junge Frau mit dem dunklen Haar, die Frau aus der Abteilung für Fiktion – sie würde ebenfalls nie vaporisiert werden. Er hatte das Gefühl, instinktiv zu wissen, wer überleben und wer untergehen würde: Dabei ließ sich gar nicht ohne Weiteres sagen, was genau den Ausschlag für das Überleben gab.
In diesem Moment wurde er ruckartig aus seinem Tagtraum gerissen. Die junge Frau am Nachbartisch hatte sich halb zu ihm umgedreht und sah ihn nun an. Es war die junge Frau mit dem dunklen Haar. Sie musterte ihn auf eine verstohlene Weise, aber mit merkwürdiger Eindringlichkeit. Kaum, dass sie seinen Blick eingefangen hatte, schaute sie wieder zur Seite.
Der Schweiß lief Winston den Rücken hinab. Eine schreckliche Angst durchzuckte ihn. Sie verflüchtigte sich gleich wieder, ließ aber ein nagendes Unbehagen zurück. Wieso sah diese Frau ihn so an? Warum folgte sie ihm überallhin? Leider konnte er sich nicht entsinnen, ob sie schon an diesem Tisch gesessen hatte, als er gekommen war, oder erst danach aufgetaucht war. Gestern jedenfalls, während des Zwei-Minuten-Hasses, hatte sie unmittelbar hinter ihm gesessen, obwohl es keinen ersichtlichen Grund dafür gab. Wahrscheinlich hatte sie die Absicht verfolgt, ihn zu belauschen und festzustellen, ob er auch laut genug schrie.
Sein voriger Gedanke kehrte zurück: Wahrscheinlich war sie gar kein Mitglied der Gedankenpolizei, aber andererseits waren es ja gerade die Amateurspione, von denen die größte Gefahr ausging. Er wusste nicht, wie lange sie ihn schon beobachtet hatte, vielleicht aber schon fünf Minuten, und es war durchaus denkbar, dass er sein Mienenspiel in dieser Zeit nicht ganz unter Kontrolle gehabt hatte. Es war furchtbar gefährlich, den Gedanken freien Lauf zu lassen, wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegte oder in Reichweite eines Telemonitors befand. Man konnte sich schon durch eine Kleinigkeit verraten. Eine nervöse Zuckung, ein unbewusster ängstlicher Blick, die Angewohnheit, leise vor sich hin zu murmeln – alles, was nur die Andeutung des Anormalen besaß oder vermuten ließ, man habe etwas zu verbergen. Wie dem auch sei, allein eine unangemessene Miene zur Schau zu stellen (zum Beispiel ungläubig dreinzublicken, wenn ein Sieg verkündet wurde), galt schon als Vergehen, das geahndet wurde. In Neusprech gab es sogar einen Begriff dafür: Gesichtsverbrechen nannte man es.
Die junge Frau hatte ihm wieder den Rücken zugekehrt. Vielleicht war sie ihm ja doch nicht gefolgt; vielleicht war es Zufall, dass sie an zwei aufeinanderfolgenden Tagen so dicht bei ihm gesessen hatte. Seine Zigarette war ausgegangen, und er legte sie vorsichtig auf die Tischkante. Er würde sie nach der Arbeit zu Ende rauchen, falls es ihm gelang, den Tabak nicht herausrieseln zu lassen. Gut möglich, dass die Person am Nachbartisch eine Spionin der Gedankenpolizei war, und gut möglich, dass er sich binnen drei Tagen in den Kellern des Ministeriums für Liebe wiederfinden würde, aber eine halb gerauchte Zigarette durfte man nicht vergeuden. Syme hatte seinen Papierstreifen zusammengerollt und steckte ihn wieder in die Tasche. Parsons hatte wieder zu reden begonnen.
»Hab ich Ihnen je erzählt, alter Junge«, gluckste er, das Mundstück der Pfeife zwischen den Zähnen, »dass meine beiden Knirpse mal den Rock der Marktfrau in Brand gesetzt haben, weil sie mitkriegten, wie die Alte ein paar Würstchen in ein Plakat des G. B. wickelte? Haben sich von hinten angeschlichen und ihr den Rock angezündet, mit Streichhölzern. Hat sich ganz schön verbrannt, glaub ich. Kleine Unholde, was? Aber immer auf Zack! Heutzutage kriegen die ein erstklassiges Training bei den Spionen – besser noch als zu meiner Zeit. Wissen Sie, was sie denen erst kürzlich gegeben haben? Hörrohre, damit man besser an Schlüssellöchern lauschen kann! Erst vor kurzem hat meine Kleine eins davon mitgebracht – hat sie an unserer Wohnzimmertür ausprobiert und meinte, sie hat doppelt so viel gehört wie nur mit dem Ohr am Schlüsselloch. Ist natürlich nur ein Spielzeug, das ist klar. Trotzdem bringt’s die Kleinen auf die richtigen Ideen, wie?«
In diesem Moment kam ein hohes Pfeifen aus dem Telemonitor. Es war das Signal, wieder an die Arbeit zu gehen. Die drei Männer sprangen auf und begaben sich in das Gedränge vor den Aufzügen, und der Rest des Tabaks rieselte aus Winstons Zigarette.
6
Winston schrieb etwas in sein Tagebuch:
Es war vor drei Jahren. Es geschah an einem dunklen Abend, in einer schmalen Seitenstraße in der Nähe eines der großen Bahnhöfe. Sie stand dicht bei einem Durchgang in einer Mauer, unter einer Laterne, die nur spärliches Licht spendete. Sie hatte ein junges Gesicht, das dick geschminkt war. Es war in Wahrheit die Schminke, die mich anzog, das helle Weiß, das wie eine Maske wirkte, dazu die knallroten Lippen. Die Frauen aus der Partei schminken sich nie. Auf der Straße war sonst niemand, es gab keine Telemonitore. Sie sagte, zwei Dollar. Ich –
Im Augenblick fiel es ihm zu schwer, weiterzuschreiben. Er schloss die Augen, drückte die Finger gegen die Lider und versuchte, die immer wiederkehrenden Bilder auszublenden. Er spürte das überwältigende Verlangen, aus vollem Halse einen Schwall schmutziger Wörter zu schreien. Oder den Kopf gegen die Wand zu rammen, den Tisch umzuwerfen und das Tintenfässchen durchs Fenster zu schmeißen – irgendetwas Gewalttätiges oder Lautes oder Schmerzhaftes, um die Erinnerung auszulöschen, die ihn immer wieder quälte.
Dein ärgster Feind, sinnierte er, ist dein eigenes Nervenkostüm. Jeden Moment konnte sich die Spannung in deinem Innern in ein äußerlich sichtbares Symptom verwandeln. Er musste an einen Mann denken, der ihm vor ein paar Wochen auf der Straße begegnet war: ein recht gewöhnlich aussehender Mann, Parteimitglied, fünfunddreißig oder vierzig, groß und hager, der eine Aktentasche trug. Sie waren nur noch wenige Meter voneinander entfernt, als die linke Gesichtshälfte des Mannes plötzlich von Zuckungen verzerrt wurde. Das wiederholte sich, als sie aneinander vorbeigingen: Es war nur ein Zucken, ein Flattern, schnell wie das klickende Geräusch einer Kamerablende, aber offensichtlich eine Angewohnheit. Er erinnerte sich, was er an jenem Tag dachte: Der arme Teufel ist so gut wie erledigt. Beängstigend an der Sache war, dass diese Handlung sehr wahrscheinlich unbewusst ablief. Die tödlichste Gefahr war, im Schlaf zu sprechen. Es gab keine Möglichkeit, sich davor zu schützen, soweit er das einschätzen konnte.
Er sog die Luft ein und schrieb weiter:
Ich folgte ihr durch den Durchgang über einen Hinterhof in eine Küche im Souterrain. An einer Wand stand ein Bett, auf einem Tisch eine Lampe, die stark heruntergedreht war. Sie –
Er merkte, wie er die Zähne aufeinanderpresste. Am liebsten hätte er ausgespuckt. Als er sich an die Frau in der Souterrain-Küche erinnerte, dachte er gleichzeitig an Katharine, seine Frau. Winston war verheiratet – war jedenfalls verheiratet gewesen: wahrscheinlich war er immer noch verheiratet, denn soweit er wusste, war seine Frau noch nicht tot. Er schien wieder den warmen, abgestandenen Geruch der Souterrain-Küche einzuatmen, einen Geruch, der sich aus Wanzen, schmutziger Wäsche und unerträglich billigem Parfüm zusammensetzte, aber doch auf eine Weise ansprechend war, denn in der Partei benutzte keine Frau je Parfüm, das konnte man sich nicht vorstellen. Nur die Proles benutzten Parfüm. In seiner Erinnerung war dieser Geruch unabänderlich СКАЧАТЬ