Название: Der Heidekönig
Автор: Max Geißler
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788711467657
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Der richtige Matheis Maris begann also, sich zu unterrichten, was es mit jenem Menschen für eine Bewandtnis hätte, der den gleichen Namen trug. — Da fand er seine Lebensgeschichte in einer Zeitung, seine eigene! Und diese Zeitung wurde in der gleichen Stunde wohl von zehntausend Menschen gelesen: die Geschichte des Gärtnerjungen, die Geschichte im Paradiese, die Geschichte von dem jungen Menschen mit den Gepflogenheiten des Einsiedlers aus der Moorheide, der in einem Kleide aus dem anderen Lande zu Nikolaas van der Layen gekommen und seinem Genie nachgelaufen sei wie die Könige aus Mohrenland dem Stern ... Habemus pictorem! schloss der Aufsatz über Matheis Maris, mit dem kein anderer gemeint sein konnte als er. Habemus pictorem. Er wusste nicht, was das bedeutete. Aber vielleicht war es die Zauberformel, die in Besitz alles Wissens setzt; denn woher konnte die Zeitung das Geheimnis aus dem Heidemoor erfahren haben, wenn nicht mit Mitteln der schwarzen Kunst?
Die Rollen, die er zuvor unter den Sohlen seiner Schuhe gespürt hatte, schienen nun an die Stuhlbeine gezaubert zu sein. Und Matheis Maris dachte: die Fahrt ins Himmelblaue müsste gleich losgehen, hussa!
Aber es geschah nichts von alledem. Und weil er unter Einsatz aller Kräfte seines Geistes den Weg nicht entdecken konnte, auf dem der »Telegraaf« zu seinem Geheimnisse gekommen war, da ward ihm angst und bange vor sich selber: die hier draussen in dieser neuen Welt wussten alles — er nichts! Und in diese Welt hatte er sich hineingewagt? Auf diesem brausenden Strom wollte er sein armes Schifflein treiben lassen? Es war ihm, er müsse nun aufspringen und seine Hände um den Mund legen zu einem furchtschweren Hilferuf.
Aber natürlich — auch das raste vorüber; denn nicht ein Ruf nach Hilfe ist die notwendige Folge, wenn einer einen beglückten und beglückenden Zeitungsartikel über sich selbst liest. Nein nein, so wild war die innere Zerrüttung des Matheis Maris nicht. Es war nur eine unerhörte Umstellung in ihm. Und es war die Erkenntnis, das sei nun wohl die Welt, die er hinter dem blauen Vorhange seines Heidehimmels vermutet hatte, und er — der Vogelsprachekunde — fände für diese Welt, um die sich nicht nach allen Seiten die fürsorglichen Hände Gottes legten, nicht die richtige Übersetzung. Ja.
Nach einer kleinen Zeit kümmerte ihn auch das nicht mehr. Da schwamm ein Glück in ihm, ein Glück — er gab ihm einen äusseren Ausdruck in der Bestellung einer zweiten Tasse Schokolade. Diesmal mit Schlagsahne. Dann las er den Aufsatz im »Telegraafen« zehnmal. Was eine sehr wohltätige Wirkung hatte. Seine Gedanken lernten nämlich wieder — zwar nicht in der Stete wie früher, aber dennoch in einer Richtung sich zu bewegen, die er wünschte. Er dachte an Flossy Maris, und er dachte an seinen Freund Pieter Bosboom, und wie es wohl wäre, wenn selbiger Pieter Bosboom nach einigen Tagen die Zeitung in die Hände bekäme und der Name Matheis Maris schlüge ihm in die Augen — nun, lieber Pieter Bosboom, du wirst in ein wildes Springen geraten, mit dem wehenden Zeitungsblatte hinüberjagen zu Mutter Flossy und deine Arme um sie werfen, dass die ärmste Frau nicht anders denken kann als: Jetzt — den armen Pieter Bosboom hat der Teufel geholt! Und Nele Greefs! Hurrjeh! Und all die anderen, die ihn angesehen hatten als den bösen Feind!
Diese Betrachtung gab ihm einen ungeheueren Ruck. Er bestellte abermals eine Tasse Schokolade. Wobei es ihm hauptsächlich um die für ihn neue Erfindung der Schlagsahne zu tun war, in die er sich neben seiner jungen Berühmtheit vertiefte in unirdischem Behagen.
Gerade hatte er beschlossen, bei Ruhm, Schokolade und Schlagsahne die Nacht herumzubringen, da schritt ein sehr langer, sehr bleicher Mensch mit sehr heissen Augen daher und sah sich vergeblich nach einem Tisch um, an dem er Platz nehmen konnte. Es war Lukas ter Meulen, der Dichter.
Matheis Maris erhob sich und wagte eine Verbeugung, wie er sie an diesem Abend zu verschiedenen Malen beobachtet hatte. Indes balancierte ter Meulen einen Stuhl über die Köpfe der Menge und setzte sich zu Matheis in den scheuen Winkel. „Na, mein Lieber, was sagen Sie zu meinem Aufsatz im »Telegraafen«? Ich habe ihn heute nachmittag bei van der Layens Lampe geschrieben und mir von dem Alten einen kleinen Vorschuss auf das Honorar ausgeliehen.“ Ter Meulen bestellte Mokka und zwölf Stück Kuchen. Den Kuchen schlang er in heissem Hunger hinab. Er trank noch einige Tassen Mokka und rauchte Virginiazigarren.
Jeder andere hätte bei diesem Gebaren in weit offene Gärten geschaut. Matheis Maris nicht. — Ja, so war das mit dem Dichter Lukas ter Meulen. Der lange bleiche Mensch verursachte in dem biederen Jan van Moor ein gewaltiges Herzbeben und frisierte ihn in dieser Nacht sozusagen zurecht für die Welt, der er fortan gehören sollte. Matheis Maris starrte ihn dabei stumm und bewundernd an. — Er hatte sein Augenmass liegen gelassen in Nikolaas van der Layens Labyrinth.
Lukas ter Meulen. Kaffeehauspoet. Für viele: ein Genie. Ohne Sitzfleisch. Als welches bei einem Genie die Hälfte der Begabung bedeutet. Genie haben, das heisst: fleissig sein wie Gott. Der ruhte am siebenten Tage — ruhete? — an jedem vorhergehenden aber schlug er sich eine Welt aus dem Herzen. Genie haben, das heisst: fleissig sein wie Gott und fast so weise. Ausserdem — ja —: wofür die deutsche Sprache kein Wort hat — das ist Genie. Einer nimmt ein Hälmlein Gras in die Hand — es fliegt ein Schmetterling daraus hervor. Einer knetet eine Krume Erde — es flattert ein Stieglitz auf. Es wischt einer ein Klümplein Farbe auf Eichenholz — und wird ein Gedanke Gottes daraus. Sehet, das ist Genie! Fast so weise wie Gott! Denn Gott nahm nichts in die Hände und warf sieben Millionen goldene Funken ins Weltall. Er nahm nichts in die Hände, und schüttelte das Blühen des Frühlings über die Erde, warf das blaue Band der Meere um sie her, richtete die ewigen Berge auf mit den silbernen Kronen, legte die Wälder dazwischen und dichtete Sommerwiesen hinein! Hosianna! Hosianna! — Nur als er den Menschen schuf, da nahm er etwas ... Oh!
Alles redete der Dichter Lukas ter Meulen dem Matheis Maris in das erstaunte Herz. Seine Ehrfurcht vor Gott. Seine Verzweiflung an den Menschen. Seine Verachtung des Lukas ter Meulen. Seine Erschütterung vor der herrlichen Blüte des Willens, die aufgegangen war in Matheis Maris und seiner gottseligen Einsamkeit. Seine Anbetung vor der Allmacht dieses Willens, der einem ahnungslosen Dorfjungen das Himmelslicht der Gnade schenkte, die die Menschen gemeinhin »Künstlertragödie« nennen. Hatten die stumpfen Moorbauern den Akt im Paradiese nicht schon betrachtet als fertiges Trauerspiel? „Es ist so — ist so, ohne Ausnahme — soweit Menschen die fürchterliche Öde ihres Durchschnittsdaseins tragieren.“
Lukas ter Meulen zermalmte das Mundstück seiner Virginia zwischen den Zähnen zu einem Pinsel ... „Ha, Tragödie! Eine Tragödie nur für die Schar derer, die ohne Willen sind!“
Ter Meulen war bis oben voll von Schätzen, Merkwürdigkeiten und Seltenheiten. Er hatte sie in sich aufgestapelt wie Nikolaas van der Layen seine Raritäten im Labyrinthe der Westerstrasse. Nun warf er alles aus sich heraus und über des Matheis Maris weitäugiges Stummsein dahin. Er tobte in der Lust seiner Menschenverachtung und in der Lust der Verachtung seiner selbst. Aber er schrie nicht. Er sprach mit verhaltener, weichverschleierter Stimme. Dabei neigte er sein Gesicht über den kleinen Marmortisch gegen Matheis. Und kam wieder auf das Gnadengeschenk des Künstlertums zu sprechen und nannte dabei das Wort »Euphorie«.
Da legte Matheis Maris der Einsiedler die Spitzen der Finger seiner rechten Hand an die Nasenwurzel wie eine Zange. Zuerst liess er sich den Sinn der vermeintlichen Zauberformel »Habemus pictorem« deuten. Dann erforschte er, was es mit der »Euphorie« für eine Bewandtnis habe ... Hilfe! Hilfe! schrie sein Bauernjungenverstand.
Da war Lukas ter Meulen schon mittendarin in der Erläuterung des geheimnisvollen Zustands eines erhöhten Lebensgefühls, den er Euphorie genannt hatte. Die Euphorie, sagte er, beginnt bei einem Kranken an einer gewissen Stelle auf dem Weg in sein Sterben. An jener Stelle lauert die Erhabenheit des Himmels. Der Mensch ist von allen Schmerzen befreit. Es löst sich sein Bewusstsein ahnungslos auf ins Unendliche ...
Matheis Maris kniff das Zänglein seiner СКАЧАТЬ