Название: Der Mann, der gerne Frauen küsste
Автор: William Boyd
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783311701699
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John-Jo Harrigan – mein alter Freund und Kompagnon – raufte sich das rötliche Resthaar und verdrehte die Augen, als er den Blick vom dunstig blauen Horizont des Ozeans abwandte und mich verständnislos anstarrte.
»Demarco ist völlig perplex«, sagte er. »Deine ursprünglichen Zeichnungen haben ihm gefallen. Sehr sogar.«
»Sie waren falsch. Alles war falsch. Die Form des Pools war falsch.«
»Er will einen rechteckigen Pool. Seine Frau ist eine passionierte Schwimmerin. Sie will jeden Tag ihre Bahnen ziehen.«
»Wenn sie die neuen Pläne sieht, wird sie ihre Meinung ändern. Keine Ahnung, was ich mir da gedacht habe. Warte ab, bis du sie gesehen hast, J.-J.« Ich tätschelte seine Hand. »Das Haus wird sensationell.«
»Er sagt, er toleriert keine Verzögerungen.« John-Jo zündete eine seiner stinkenden Zigarillos an.
»›Tolerieren‹ – finde ich gut.«
»Der hat seinen Doktor in Princeton gemacht. Das ist kein bescheuerter Milliardär.«
»Und wir sind keine bescheuerten Architekten. Es gibt keine Verzögerungen.«
Wir liefen auf dem Pier von Malibu in Richtung Strand.
»Ich glaube, auf dem Pier ist Rauchen erlaubt«, sagte ich.
»Was ihn wohl wirklich vor den Kopf gestoßen hat«, sagte John-Jo nachdenklich, »ist die Tatsache, dass du unrasiert zur Besprechung gekommen bist.«
»Ich bin Landschaftsarchitekt, kein Buchhalter.«
»Lässt du dir einen Bart stehen?« John-Jo gluckste, als wäre die Vorstellung völlig abwegig.
Ich strich über mein stachliges Kinn. »Mir war einfach nicht nach Rasieren«, sagte ich trotzig. »California Dreaming.«
John-Jo lachte. »Du bist und bleibst ein alter Hippie. Ich habe Stella gewarnt, sie wollte nicht auf mich hören. ›Stella-Darling‹, habe ich gesagt, ich erinnere mich genau. ›Du heiratest einen gottverdammten Hippie.‹« Er lächelte mich an. »Gehen wir einen trinken«, sagte er und zeigte auf ein Bar-Restaurant, das gerade öffnete. »Danach fahre ich zu Demarco und mache ihm klar, dass du ein Genie bist.«
Ich zog aus dem unmöglichen Luxusschuppen mit den üppig-feuchten Gärten aus, um die Pläne für Demarcos Anwesen in vollkommener Einsamkeit zu überarbeiten, und mietete ein Studio Apartment in Venice, eine Straße vom Strand entfernt, mit Schlafsofa, Duschkabine und Kochnische. Es war ziemlich spartanisch und nach einer nachmittäglichen Putzaktion blitzsauber. Ich besorgte mir einen großen Zeichenblock, ein paar Federn, Pinsel und farbige Tinten und machte mich an die Arbeit. Mir war klar, dass ich etwas liefern musste, was sofort überzeugte; meine neuen Entwürfe unterschieden sich so dramatisch von den alten, dass sich Demarco auf den ersten Blick in sie verlieben musste. Mit Überzeugungsarbeit, egal wie bemüht, war er nicht zu gewinnen. Ich hatte einen einzigen Schuss frei, also mussten die Zeichnungen absolut perfekt sein, die Kühnheit des Entwurfs so zwingend, dass sie auf Anhieb überwältigte.
Ich hatte ein Telefon, aber beschloss, niemandem meine Nummer zu geben. Mit dem Hotel vereinbarte ich, dass meine Anrufe notiert wurden, und mehrmals am Tag ging ich hin, um sie zu erledigen. Weder John-Jo noch Stella sagte ich, dass ich ausgezogen war. Wenn ich anrief, dann scheinbar aus dem Hotel – ein Trick, der leicht umzusetzen war. Erst später sollte er sich als verhängnisvoll erweisen.
»15. Mai. Dienstag, glaube ich. Gute Arbeit in den letzten zwei Tagen, intensiv und konzentriert. Ich könnte diese Zeichnungen an eine Galerie verkaufen. Eine merkwürdige Sache: Ich hatte mich in den vier Tagen seit meinem Umzug nicht rasiert, und der Bart begann zu kratzen und zu jucken. Als ich zur Tat schritt, stellte ich fest, dass ich meine Kinnlade rasieren konnte, aber nicht meine Oberlippe. Ich setzte den Rasierer unter der Nase an, doch meine Hand streikte. Ich versuchte es mit der anderen Hand – ohne nennenswerten Erfolg. Es war, als wären meine Muskeln erstarrt. Als verweigerten sie einfach die Befehle meines Gehirns. Überall sonst, an Wangen und Kinn konnte ich ungehindert herumschaben. Ich spülte den Rasierschaum weg und erblickte die Ansätze eines stattlichen, breiten Schnurrbarts, der nicht an den Mundwinkeln endete, sondern sich in elegantem Schwung über die Wangen erstreckte. Komischerweise gefiel mir, was ich sah. Ich musste an die alten Fotos gewisser Cowboys denken: Buffalo Bill oder Wyatt Earp. Ein Look aus dem tiefsten neunzehnten Jahrhundert, dachte ich – höchste Zeit für ein Revival.«
Woher diese Unbeirrbarkeit? Ich hatte mir nie zuvor einen Schnurrbart wachsen lassen, wieso jetzt? Ich deutete es als unbewussten Wunsch, mich an Venice anzupassen, ein typischer Bewohner dieses bizarren Küstenareals zu werden, das sich zwischen dem biederen Santa Monica und den Industriebrachen der Flughafengegend erstreckt.
Meine Tage verbrachte ich meist arbeitend im Atelier, machte kurze Ausflüge zum Waschsalon und zum Supermarkt, schlief prächtig auf meiner schmalen Couch und ging jeden Morgen bei Sonnenaufgang zum Joggen an den Strand. Mein Schnurrbart wuchs. Einmal sah ich mein Spiegelbild in einem Schaufenster, als ich, die braune Einkaufstüte im Arm, nach Hause lief – ich war in Jeans und T-Shirt, mein grau werdendes Haar wild und ungekämmt –, und es dauerte einen Moment, bis ich mich erkannte. Ein Schnurrbart kann ein vertrautes Gesicht von Grund auf verändern. Ich blieb stehen, ging näher zum Schaufenster und starrte: Was ich sah, gefiel mir. Niemand würde mich erkennen, und ich weiß noch, dass ich still vor mich hin lächelte, während ich weiterlief. Ich rief Demarco an und machte einen Termin für den nächsten Tag. Die Zeichnungen waren vorzeigbar.
An dem Abend ging ich in eine Bar namens Moon. Sie war dunkel und aufdringlich mit Mondmotiven dekoriert: vielfarbige Monde überall. Die Musik war laut und hämmernd, die Kundschaft aber – das war schließlich Venice – bemerkenswert gemischt: alle Altersklassen, alle Looks, von schön bis schräg, also fühlte ich mich wie zu Hause. Ich setzte mich an die Bar und bestellte einen Cocktail namens The Sea of Tranquility, blau in der Farbe, merkwürdig süßsauer im Geschmack – ohne über seinen Gehalt nachzudenken. Ich schlürfte meinen Drink, doch meine Aufmerksamkeit war völlig von dem Mädchen hinter der Bar gefesselt.
»19. Mai. Dieses Mädchen war nicht schön, es hatte ein verhärmtes Gesicht, unregelmäßige Zähne und einen spitzen Stecker in der Unterlippe. Ihre rechte Schulter war dunkel mit irgendeinem verschlungenen kabbalistischen Symbol tätowiert. Sie trug ein verschossenes Turnhemd, Radlerhosen aus Elastan und klobige Wanderstiefel. Nach meinem dritten Sea of Tranquility und meinem dritten Zwei-Dollar-Trinkgeld lächelte sie mich endlich an СКАЧАТЬ