Название: Der Mann, der gerne Frauen küsste
Автор: William Boyd
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783311701699
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All das, die alte Stadt mit ihren harschen Gepflogenheiten, stand mir lebhaft vor Augen, als ich durch eine der öden dunkelgrauen Straßen der New Town lief und mir der Regen schon wieder ins Gesicht peitschte, während ich auf die Nummer 37 zuging und dort das Messingschild (übersät mit eisigen Tropfen) neben dem Klingelknopf erblickte, auf dem geschrieben stand: The Royal Scotch Institute of Hydrodynamic Engineering und darunter der lapidare Hinweis: Lieferanten bitte am Hintereingang klingeln.
Eine winzige grauhaarige Frau mit übernatürlich hellen Augen öffnete die Tür und führte mich zu einem Stuhl in der großen, fast dunklen Vorhalle, wo zahlreiche gefirnisste Porträts von Ingenieurgrößen des neunzehnten Jahrhunderts auf mich herabblickten. »Mr Auchinleck ist sofort bei Ihnen«, sagte sie und huschte zurück in ihr Büro, aus dem ich kurz darauf ein Geräusch hörte, das immer seltener wird: das geschäftige Klappern einer mechanischen Schreibmaschine.
Es war Petra Fairbrother gewesen, die mich – unbewusst – dazu veranlasst hatte, das schäbige Hotel in Bloomsbury zu verlassen und mich nach Norden aufzumachen. Sie spürte mich dort auf und erzählte mir mit aufgeregter Stimme am Telefon, sie habe einen »Anhaltspunkt«, obwohl sie selbst nicht wisse, ob er etwas hergeben werde.
Sie hatte meine Blätter mit den Beispielen »automatischen Schreibens«, wie sie es nannte, einem Freund gezeigt, der Mathematikprofessor in Cambridge war. Ihm kamen meine Zeichnungen – die X-Figuren mit den verlängerten Armen – vage bekannt vor, und er hatte versprochen, Recherchen anzustellen. Ich malte mir lebhaft aus, wie meine Blätter in den Professorenclubs der Colleges herumgereicht wurden, wie ehrwürdige Häupter sich über meine Hieroglyphen beugten und sich in gelehrten Spekulationen ergingen … Doch wie auch immer: Nach wenigen Tagen schon meldete er sich mit der Nachricht, das fragliche Zeichen sei von einem Kollegen der Technischen Fakultät erkannt worden. Es bestehe durchaus die Möglichkeit, berichtete mir Petra Fairbrother, dass das Zeichen, das ich zehntausend Meter über dem Atlantik zu Papier gebracht hatte, ein Konzept darstelle, das in der Hydrodynamik als »Andreas-Welle« bezeichnet werde.
Ein paar Stunden Recherche in einer lokalen Bibliothek förderten die wesentlichen Fakten über die Andreas-Welle zutage. Sie bezeichnet ein Phänomen, das der schottische Ingenieur Findlay Smith Quarrie 1834 entdeckt hatte. Eines Nachmittags ritt er am Ufer des Union Canal bei Edinburgh entlang und bemerkte, als ein Lastkahn plötzlich gestoppt wurde, dass sich das Wasser nach kurzer heftiger Aufwallung beruhigte und dann eigenständig als gleichmäßige Welle fortpflanzte – so als bewegte sich der Lastkahn noch vorwärts und als fände die durch seine Fortbewegung verursachte Wasserverdrängung weiterhin statt. An jenem besonderen Tag hatte Quarrie seinem Pferd die Sporen gegeben und war der Welle über mehrere Meilen gefolgt. Sie war auf rätselhafte Weise real, obwohl sie wie von Geisterhand ausgelöst schien. Es war, bemerkte Quarrie in der Abhandlung, die er mit der Bitte, den anthropomorphen Charakter seiner Beobachtungen zu entschuldigen, beim Institute of Hydrodynamic Engineering einreichte, »als ob sich das Wasser an die Einwirkung des Lastkahns erinnerte«.
In seiner Abhandlung schlug er ein mathematisches Symbol zur Bezeichnung dieses Phänomens vor: zwei parallele Linien, die sich infolge eines Energiewechsels in der Mitte kreuzten. Er nannte es Andreas-Welle, weil die daraus resultierende Form an eine verlängerte Version des weißen X auf blauem Grund, nämlich die schottische Flagge, erinnerte, die gemeinhin als Andreaskreuz bekannt ist.
Ich saß genauso unvoreingenommen wie erwartungsfroh in der halbdunklen Vorhalle des Instituts und wartete auf Mr Auchinleck. Warum es mich nach Edinburgh gezogen hatte und was ich hier herauszufinden hoffte, war mir nicht ganz klar, aber zumindest war ich aktiv geworden und hatte etwas in Angriff genommen. Vielleicht führte dieser Besuch zu irgendeiner besonderen Erkenntnis, und mein sechster Sinn sagte mir, dass sie in der längst verblichenen Person von Findlay Smith Quarrie zu suchen war.
Ein Geräusch quietschenden Gummis nahte auf dem gebohnerten Parkett des Instituts, bevor Mr Auchinleck in Erscheinung trat: ein Mann Anfang dreißig mit einer Fülle wellig-krausen braunen Haars. Er trug einen grauen Anzug und ein Hemd im Schottenkaro ohne Krawatte. Das Quietschen kam von seinen groben Sandalen, deren Sohlen offenbar aus Autoreifen geschnitten waren. Ich konnte mir nicht verkneifen, nach unten zu schauen, und sah mit einiger Bestürzung, dass seine übermäßig langen Zehennägel wie gekrümmte gelbe Krallen unter den Querriemen der Sandalen hervorschauten.
Auchinleck war ein umgänglicher Zeitgenosse – »nennen Sie mich Gilles«, bot er mir sofort an – und erfreut zu erfahren, dass ich mich für Findlay Smith Quarrie und die Andreas-Welle interessierte.
»Ein faszinierender Mensch«, sagte Auchinleck. »Seiner Zeit voraus, gewissermaßen. Ich glaube nicht, um ehrlich zu sein, dass er wirklich wusste, was er mit seiner Welle entdeckt hatte.« Er grinste. »Heute sagen wir, alles ist wellenförmig, nicht wahr? Atome sind sowohl Welle als auch Teilchen«, referierte er in gelehrigem Singsang. »Angeblich ist sogar das Denken ein Wellenphänomen.«
»Wirklich?«
»Nun, so wird es behauptet. Wellen, Wellen überall. Möchten Sie wissen, wie er aussah?«
»Wer?«
»Quarrie.«
Gilles Auchinleck führte mich die Treppe zum alten Hörsaal des Instituts hinauf: im Halbkreis aufsteigende Bankreihen vor einem hölzernen Podium, hinter dem ein gewaltiges Gruppengemälde hing.
»1834«, sagte er. »Die Gründungsmitglieder. Dort steht Quarrie neben seiner berühmten Pumpe.«
Ich trat vor, folgte seinem Zeigefinger und starrte auf das gut ausgeführte Porträt eines rundlichen Mannes mit rosigem Gesicht, dessen Seidenweste über dem Bauch spannte, eher Landadel als das Idealbild eines viktorianischen Ingenieurs.
»Quarrie machte ein Vermögen mit dieser Pumpe«, sagte Auchinleck. »Um die Jahrhundertmitte war sie in jeder Kohlengrube der Welt vertreten.«
Er redete weiter, aber ich hörte nicht zu, weil mein Blick von einer düsteren Gestalt im Hintergrund gefesselt wurde – ein Mann im dunklen Anzug mit einer merkwürdigen weißen Seidenschleife um den Hals. Er hielt eine brennende Zigarre in der Hand, seine Augen schienen direkt aus der Leinwand herauszustarren. Seine Züge waren eingefallen und hager – man fragte sich, ob durch Krankheit oder Laster –, aber das Auffälligste an ihm war der breite Schnurrbart, der sich dunkel über sein bleiches Gesicht spannte, mit Enden, die über die Mundwinkel ragten und sich in sorgfältig gestutztem Schwung nach oben bogen.
»Wer ist der Mann?«, fragte ich, mit dem Finger auf ihn zeigend. »Der im Hintergrund.«
»Gute Frage«, sagte Auchinleck. »Wenn wir in die Bibliothek hinuntergehen, kann ich es Ihnen genau sagen.«
»Edinburgh, 17. August. Es heißt, dass die Macht eines Blicks unter gewissen Umständen körperlich spürbar ist (vielleicht ist auch der Blick eine Art Welle?) und, falls er intensiv genug ist, den Empfänger zum Hinsehen zwingen kann. Doch das Mädchen hinter der Bar, das ich jetzt seit fünf Minuten anstarre, raucht unbeeindruckt weiter, schaut überallhin, nur nicht zu mir. Sie ist natürlich dunkelhaarig, jung, mit СКАЧАТЬ