Название: Der Mann, der gerne Frauen küsste
Автор: William Boyd
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783311701699
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Wie werde ich ein erfolgreicher Regisseur, Seite eins, erster Absatz, Regel Nummer eins: Verliebe dich niemals in die Hauptdarstellerin.
Vier biedere japanische Geschäftsleute am Nebentisch haben mich eben gebeten, ein Foto von ihnen zu machen, und ich tat ihnen den Gefallen. Haben wohl kaum geahnt, wer es war, der auf den Auslöser drückte. Ist irgendwas seltsam an diesem Bildmotiv? Vielleicht sollte ich es für die Schlussszene von Blue on Blue verwenden. Einfach die vier Japaner in die Cafészene stecken, bevor sich der Hauptheld erschießt – wie sie sich im Hintergrund fotografieren –, und unkommentiert lassen. Cool.
Zwei ausländische Mädchen – Au-Pairs? Touristinnen? –, eine deutsch, die andere aus Belgien(?), sprechen neben mir am Nachbartisch Englisch, unbeeindruckt von meinem Alkoholkonsum und meiner Nähe. Ich erfahre, dass eine von ihnen, die Deutsche, endlich eine Beziehung mit einem Mann hat, die schon einen vollen Monat hält. Die Freundin zeigt echte, unverfälschte Freude. (Nebenbei: Die Glückseligkeit von Frauen, wenn die Freundin einen Mann findet – kein Gefühl, das beim anderen Geschlecht eine Entsprechung hätte.) Diese Mädchen haben beide einen Salatteller bestellt, dazu Wasser die eine, Orangensaft die andere. Das ist ihr Lunch – erstaunlich. Was lockt sie in ein hektisches, lärmiges Fresslokal wie dieses? Diese Mädchen gehören zu einer neuen, internationalen Spezies, sind auf der ganzen Welt zu Hause, sprechen ein gutes, wenn auch nicht akzentfreies Englisch, eine Art fließendes Euro-Englisch: »I am very bad with separation«, sagt die Deutsche, als sie schon im Gehen begriffen ist. Kein Engländer würde das so sagen, aber man versteht es sofort.
Leo Winteringham hat Blue on Blue abgelehnt.
Sind nicht die einzigen Wahrheiten, für die man sich wirklich verbürgen kann, diejenigen, die man selbst tief empfindet? »Ich bin glücklich« ist etwas, was man nur für sich selbst feststellen kann. Absolut. Alle anderen Interpretationen der Welt, die über einen selbst hinausgehen, sind daher suspekt, bloße Vermutungen und Folgerungen. »Tanja Baiocchi ist eine unfassbar schöne Frau«, »The Sleep Thief ist ein außergewöhnlich schlechter Film« – ich verliere den Faden, der schwere australische Wein macht sich bemerkbar, fordert seinen Tribut. Wie ging diese Zeile bei Tennyson? Der Mensch bestellt das Feld und legt sich in die Grube kann man zu intelligent sein für den Erfolg Leo war meine letzte Hoffnung und nach vielen Sommern stirbt der Schwan aber ich weiß nichts nichts keine Gewissheiten zu haben kann sehr anregend sein kreativ diskutieren was genau ich wirklich weiß Tanja Baiocchi ist zu Pierre-Henri Duprez zurückgezogen ich bin nicht glücklich auch ich bin schlecht in Trennung das Problem mit mir ist dass ich nie [Notizbuch endet hier.]
Eine Heimsuchung
I Los Angeles
Ich heiße Alexander Rief. Ich heiße Alexander Rief. Ich heiße Alexander Rief – und ich glaube, ich werde verrückt.«
Ich saß in der Business Class eines Jumbojets auf dem Flug nach L.A., als ich diese Sätze in mein Notizheft schrieb – wohl weil ich glaubte, dass mir die einfache Wiederholung meines Namens eine Art Halt bieten würde, während sich mein Verstand verabschiedete. Ich hatte meine Skizzen für das Demarco-Projekt in Pacific Palisades durchgesehen und fühlte mich relativ gut, ich hatte gegessen und keinen Alkohol getrunken, weil ich einen schwachen Kopfschmerz verspürte. Er fing etwa eine Stunde nach dem Start in London an, was nichts Ungewöhnliches war – außer dass Kopfschmerzen bei mir selten sind –, aber an diesen Schmerz erinnere ich mich, weil er sich fast wie ein Gegenstand in meinem Kopf umherbewegte, so als würde etwas durch mein Schädelinneres kriechen, vom Nacken ausgehend durch die rechte Kopfhälfte, um sich in der Mitte der Stirn festzusetzen. Ich nahm zwei Aspirin und wartete auf die Wirkung, aber sie schienen nicht zu helfen. Der Schmerz nahm stetig zu, so stark, dass ich ihn nicht mehr ignorieren konnte. Er war nicht bohrend, nicht pochend, aber er war da, unabweislich, und ließ nicht locker. Ich massierte meine Stirn mit den Fingerspitzen, ich rieb sie mit dem kühlenden Gel ein, das ich in der Kulturtasche der Business Class fand, und nahm mir schließlich meine Arbeit vor, in der Hoffnung, dass mir die Ablenkung Linderung verschaffen oder ich zumindest an andere Dinge denken würde als an Blutgerinnsel, Schlaganfälle und Tumoren, die sich immer stärker in meine Überlegungen drängten.
Ich sah mir also die Skizzen für die Demarco-Terrassen an, den Verlauf der Gehwege hinab zum Pool und die Randbepflanzung, ich nahm meinen Stift heraus und fügte den Zypressen, die ich hinter das Poolhaus gesetzt hatte, ein paar Schraffierungen hinzu.
Als ich gerade an den Laubschattierungen arbeitete, spürte ich meinen Arm plötzlich kalt werden, als wäre meine rechte Seite der Zugluft ausgesetzt. Im selben Moment spürte ich, aber ohne es wirklich zu fühlen, dass meine Finger den silbernen Stift fester umschlossen; ein leichter, aber deutlicher Tremor brachte die Spitze des Stifts zum Flirren wie den Zeiger eines Seismographen vor einem größeren Erdbeben.
Und dann begann ich – oder vielmehr meine Hand – zu malen, große kräftige Figuren quer über meine zarte Zeichnung der Demarco-Terrassen. Sie sahen x-förmig aus, doch jeder der vier Arme war horizontal in die Länge gezogen. Meine Hand richtete den Stift auf, damit er die Figuren richtig zeichnen konnte, und wenn eine fertig war, fing die Hand sofort mit der nächsten an. Bald war meine ganze Skizze bedeckt, und ich drehte das Blatt um, damit sie weiterzeichnen konnte – was sie auch tat, zielstrebig, sorgfältig, alle X-Figuren in derselben Größe, ohne dass etwas Hastiges oder Fieberhaftes daran war.
Ich saß da, fast atemlos, während meine rechte Hand selbstständig fortfuhr, die Seite vollzumalen. Einmal legte ich die linke Hand beruhigend auf meine rechte Faust, aber sie schien unfähig, irgendeine Wirkung auszuüben, der Stift bewegte sich weiter, ich nahm meine Linke wieder weg und schaute zu, wie die Masse der X-Figuren die Seite füllte. Wenn das Personal auf dem Gang vorbeilief, beugte ich mich über das Heft, damit es aussah, als würde ich schreiben. Mittlerweile schwitzte ich heftig und wurde von einer Panik ergriffen, die mir völlig unbekannt war. Während sich meine rechte Hand wie aus eigener Willenskraft über das Papier bewegte, fragte ich mich, ob es in meinem Gehirn zu einer Fehlfunktion gekommen war – ob der Kopfschmerz signalisierte, dass irgendein wichtiges Blutgefäß geplatzt war oder meine Neurotransmitter ihren Dienst versagten –, und in meinem inneren Ohr hörte ich ein stummes Wehklagen, den hilflosen Jammer der Verzweiflung, als hätte meine Seele, die Seele von Alexander Rief, die Macht über den Körper verloren, den sie bewohnte.
Der »Anfall« dauerte wohl – ich weiß es nicht genau – fünf oder zehn Minuten, ich hatte nicht auf die Uhr geschaut. Plötzlich hielt meine Hand inne, und der Stift verharrte auf dem Papier. Ich spürte, wie mein Arm wieder warm wurde, als ich ihn sanft mit den Fingern der linken Hand berührte. Ich ließ den Stift fallen und öffnete die Faust. Mein Kopf war nach dem inneren Aufruhr völlig leer, und ich atmete langsam durch. Vorsichtig nahm ich den Stift auf, drehte ihn in den Fingern und schrieb meinen Namen. »Ich heiße Alexander Rief. Ich heiße Alexander Rief …« Es dauerte etwa zehn Minuten, bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte und feststellte, dass der Kopfschmerz verschwunden war.
»Ich sitze in der fortschreitenden Dämmerung dieses kalifornischen Gartens«, schrieb ich an dem Abend in mein Tagebuch, »und frage mich, was mir im Flugzeug passiert ist. War es der Arbeitsstress? Ein Mini-Nervenzusammenbruch? Solche abnormen Erscheinungen können einen aus heiterem Himmel treffen, wie ich weiß, aber bis jetzt war mein Leben völlig frei von derartigen Nervenkrisen gewesen, egal wie groß der Stress war, in dem ich mich befand. Jetzt bin ich müde, fühle mich aber völlig normal. Ich habe Stella in London angerufen, aber entschied mich, ihr nicht zu erzählen, was mir widerfahren ist. Ob das klug war, weiß ich nicht. Aber warum sollte ich ihr unnötig Sorgen machen. Morgen Demarco und die Besprechung der Umgestaltungspläne. John-Jo СКАЧАТЬ