Название: Das weibliche Genie. Hannah Arendt
Автор: Julia Kristeva
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783863935665
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Für Augustin, den Christen, ist das Leben als »höchstes Gut« ein »Leben, das nicht verloren werden kann«: Ohne Tod, ohne Ende ist es ewig. Das beate vivere, absolutes »Gut«, ist also nichts anderes als die »Ewigkeit« außerhalb unserer Existenzen. Nun tendiert die Liebe zu diesem außerhalb Existierenden (als Echo auf die Heideggersche Lehre: zum Sein hin), ewige und glückliche Totalität des höchsten Gutes (summum bene), das ewige Leben in Gott. Obwohl dieses höchste Gut jedoch außerhalb des Menschen liegt, schafft es eine Spannung im Existierenden selbst, da es ihm immer schon durch die retrospektive Wiedererinnerung bekannt ist (die Philosophin betont hier die Uminterpretation Platons innerhalb des Augustinischen Denkens). Die spezifische Spannung im Leben des Seienden spaltet dieses zwischen seiner Endlichkeit und der Ewigkeit, wobei die Liebe das Zeichen seiner Spaltung ebenso wie seiner möglichen Verschmelzung ist. Die Liebe zielt auf ein Gut, das außerhalb dieses Ziels liegt. Da aber alles, was von außen auf das Leben zukommt, nur erstrebt ist um des Lebens willen, so ist eigentlich das Leben zu erstreben.62
So zeichnet sich eine Verdopplung, wenn nicht gar eine Dialektik des Lebens ab: absolute Äußerlichkeit des ewigen Seins und zugleich deren Einführung in die Innerlichkeit des Liebenden; ein Leben der Liebe ist bereits ein LEBEN. Gott, der Liebe ist, erscheint notwendigerweise als das, was Leben mit ewigem Sein identifiziert. Es ergibt sich daraus, daß man zu Gott findet nur … indem man in Liebe lebt. Aber wie?
Im Gegensatz zur Identifizierung von Leben und in Gott sein steht das gegenwärtige Leben, das es zu vernachlässigen gilt: Allein die Begehrlichkeit spricht diesem Leben eine ausschließliche Bedeutung zu. So wie der Liebende sich bei der Geliebten vergißt – Arendt wird später63 sagen, daß die Liebesbeziehung ebenso wie die »christliche Güte« »weltlos« ist – so ist das gegenwärtige Leben angesichts des LEBENS zu vergessen. Dennoch genießt das Subjekt (der Gläubige) das LEBEN (Gottes: des summum esse), indem es es liebt, und dieser Genuß ist möglich in dem Maße, wie das Subjekt seine Glückseligkeit auf ein Draußen richtet, wo Gott ist.
Zeitlich gesprochen ist dieses Außen nichts anderes als die von der Vergangenheit untrennbare Zukunft. Das glückliche Leben ist immer bereits in der Vergangenheit, so daß allein die Erinnerung es in das gegenwärtige Leben holt: Die Rolle der Wiedererinnerung ist also zentral, denn sie verschafft uns den Zugang zur Glückseligkeit. Arendt betont gern, daß Augustin – durch die Erinnerung und im Genuß – das glückliche LEBEN, das gegenwärtige Leben und die Wiedererinnerung miteinander verbindet: Das glückliche Leben ist ein nach außen und auf die Zukunft hin (Ewigkeit) entworfenes Leben, und zwar einzig auf Grund der »Rückverkoppelung des Begehrens«, die es in der Vergangenheit wiederfindet (Wiedererinnerung); zum Ursprung des irdischen Lebens gelangen ist der Grund allen menschlichen Strebens.64 Mit anderen Worten: Das Leben befreit den Seienden aus seiner Endlichkeit eines vom Sein Verworfenen und bindet ihn durch die Erinnerung oder das Bekenntnis (ricordari) an die Ewigkeit: aber dann, und nur dann, wenn das Leben sich mit der Liebe identifiziert.
Ohne die Erinnerung aufzugeben, ist das Leben keine reine Vergegenwärtigung der Vergangenheit, sondern gibt sich zu erkennen als Streben nach dem glücklichen Leben, als Begehren. Obwohl von der Natur abhängig und mehr noch von jenem, »der mich geschaffen hat«, verbirgt das Leben in der Liebe somit eine Art Unabhängigkeit: Es entwirft, überschreitet, erhebt, in einem Wort, es begehrt die Erinnerung. »Ich will also diese meine Naturkraft überschreiten, um mich schrittweise zu jenem zu erheben, der mich geschaffen hat; und ich komme an bei den Feldern und weiten Palästen der Erinnerung«, schreibt Augustin in den Bekenntnissen (X, 12)65, die Arendt kommentiert.
So ist im Rückbezug zum Sein – gleich Leben der Liebe – das Seiende mit ewiger Beständigkeit konfrontiert und erwirbt selbst ewige Beständigkeit sich selbst gegenüber: Das menschliche Leben kann nicht wechselhaft sein, sein Sein ist das völlig Unveränderliche.66 Eben hier wird die Differenz zwischen der christlichen Position des Lebens als Versöhnung mit dem Ewigen und die gegenwärtige Position des Menschen in der Revolte deutlich. Die revoltierende Wende, das Begehren nach Bruch, Erneuerung oder Renaissance, das den modernen Menschen kennzeichnet und von den Revolutionen ausgedrückt wird, über die Arendt später in erhellender Weise nachdenken wird, ist keine Beruhigung in einer stabilisierenden »Gegenüberstellung mit Gott«. An die Stelle des Strebens zum ewigen Sein tritt von nun an das Ideal des Wandels, der ständigen Verschiebung. Allerdings führt das Denken Augustins in Hannah Arendts Lektüre bereits die Prämissen einer Auffassung des Lebens als Beweglichkeit, Andersheit, Anderswerden ein. In der Tat fügt nach Augustin die Kreatur zur Stabilisierung des Unveränderlichen, das vom glücklichen Leben angestrebt wird, ihren spezifischen Anteil hinzu. Dem zeitlosen und ewigen Universum fügt das Subjekt eine »eigentümliche Abbiegung« hinzu, wie Arendt schreibt. Indem er in die unveränderliche Gleichzeitigkeit hineingeboren wird, führt der Mensch die zeitliche Abfolge ein.
Ein anderer Aspekt des Lebens kündigt sich hier an: ein Leben, das nicht das ewige LEBEN ist, sondern das Leben, das hinzukommt in und durch die Geburt. Die »Geburt« (ein häufig wiederkehrendes Arendtsches Thema) ist Trägerin der Zeit und von der Zeit getragen. Das Leben zwischen Geburt und Tod »verbiegt« in der Ewigkeit des Seins eine »Welt« (mundum), in der sich das Leben als Werk unseres Willens entfaltet: »… aus der Vorgegebenheit der Schöpfung macht der Mensch die Welt und macht sich selbst zu einem der Welt Zugehörigen.«67
Halten wir die neue Definition des Lebens fest: Das Leben konstituiert die Welt; zur Tatsache, daß der Mensch im Sein geboren wird, dieses bewohnt und liebt, kommt eine zusätzliche Dimension hinzu: die Dimension des Anfangs und des Tuns. Ausgehend vom göttlichen principium führt das menschliche initium zu Geburten und Taten. So verstanden verwandelt das Leben die »Schöpfung« in »Welt«: Gewiß adoptiert das Geschöpf die Welt, mehr noch aber gründet es sie; es findet sie bereits vor (invenire), aber macht sie auch (facere). Aus dieser fruchtbaren Verdoppelung taucht für das menschlichen Dasein die Möglichkeit auf, sein eigenes Sein zu befragen.
Von Arendt aus Augustin abgeleitet, ergibt sich ein neuer Reichtum des Lebens. Als Anfang ist die Geburt auf das zuvor (ante) bezogen, und über sein Ende im Tod hinaus kündigt der liebende Lebende die künftige Dauer an (im Sein, im Ewigen). Das heißt, die Geburt des Menschen bringt ebenso sehr die Zeit wie die Nichtübereinstimmung mit dem Sein hervor, die Quelle von Fragen sind: »Damit ist aber das menschliche Leben wieder hereingestellt in die Umschlossenheit von der Welt und nicht gesehen in dem Zugleichsein mit der Welt. Denn dem post mundum des Entstehens entspricht das Weiterdauern nach dem Vergehen.«68 Dieser neue Sinn des Lebens sei hier betont: Nicht mehr ewiges Glück noch Wiedererinnerung an das Sein Gottes in der Glückseligkeit des Liebenden, ist das Leben von nun an eine Frage. Begrenzt durch das »noch nicht« und das »bereits nicht mehr«, überschreitet das bei der Geburt gegebene Leben, indem es sich befragt, die Welt. Questio mihi factus sum – »Ich bin mir selbst zur Frage geworden«: Die Augustinische Formulierung, die Arendt bis Vom Leben des Geistes69 erkundet, fällt mit dieser Erfahrung der Liebe zusammen, die gleichzeitig mit dem Willen und der Interiorität des Menschen entsteht. Sie tendiert zum Sein (tendere esse), und aus dieser Spannung konstituiert sich das Geschöpf »noch einmal«, nachdem es vom Schöpfer geschöpft worden ist. Nachdem es so vom Sein zum Sein, von Ewigkeit zu Ewigkeit schreitet, hebt das Leben seinen Grenzcharakter auf.70
Man erkennt hier die Anstrengung Arendts, Augustin lesend den Gegensatz objektiv – subjektiv zu überwinden und die menschliche Freiheit nicht in einer inneren psychischen Disposition festzumachen, sondern im Charakter der menschlichen Existenz in der Welt selbst. Das dem principium folgende initium ist Kennzeichen dieser vorsubjektiven Determination menschlicher Freiheit als »Selbstanfang«, so wie ihn Kant definierte: Weil es einen Anfang gibt, kann der Mensch anfangen; und indem er beginnt, geboren zu werden, bestimmt er sich zu erneuerbaren Geburten, СКАЧАТЬ