Название: Das weibliche Genie. Hannah Arendt
Автор: Julia Kristeva
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783863935665
isbn:
So neu sie im Verhältnis zum antiken Denken ist, so bleibt die Einführung von Geburt und Tod bei Augustin dennoch einerseits weiterhin im Rahmen einer absoluten Aufwertung des ewigen auf Kosten des gegenwärtigen Lebens. Der Ablauf des Lebens hat keine wirkliche Bedeutung gegenüber der Versöhnung mit der Ewigkeit des Seins in der Glückseligkeit. Die »vorchristliche Sphäre des Denkens Augustins« verlassend, die von Neuplatonismus und hellenistischer Autarkie abhängt, bemüht sich die Philosophin nachzuweisen, daß eine neue Orientierung der Augustinischen Überlegung sich abzeichnet, deren Quelle nicht mehr griechisch, sondern biblisch ist: Es geht um eine andere Logik, die den Schöpfer integriert.
Dieser schöpfende Gott ist nicht mehr kosmisches Wesen, sondern, obwohl sich anthropomorph verhaltend, der andere der Kreatur, der zwar in Liebe wählt, aber auch fordert und verbietet. Von nun an ist das Gesetz im Herzen des Menschen als Autorität eingeprägt, die befragt und somit die vorangegangene Frage, auf die wir stießen, erneut stellt: Das Leben, das sich nicht befragt, das Leben in der Gewohnheit erscheint nunmehr nach biblischem Denken als »wahre Sünde«, mehr als irgendein Begehren. Wenn andererseits das Gesetz die Welt verbietet (»Du sollst nicht begehren«), so stellt sich Gott gegen das Leben in der Welt und die Kreatur in der Welt entsprechend gegen Gott. Die Autorität Gottes ist ständig in diesem Gegensatz gegenwärtig: »Damit aber ist Gott […] verstanden als […] die stets gegenwärtige Autorität, der die creatura im Vollzug ihres Lebens selber ständig gegenübersteht.«73
Arendt beharrt auf dem Leben als Konflikt, so wie es sich aus der biblischen Stellung eines Schöpfer-Gottes ergibt. Fügen wir hinzu, daß dieser Gedanke des Gegensatzes, der Revolte mehr und mehr den modernen Menschen kennzeichnen wird: Er wird aus ihm nicht nur seinen Anspruch gewinnen, die Güter dieser Welt zu genießen (was in der von Arendt in ihrem späteren Werk oft verurteilten Säkularisierung gipfeln wird), sondern auch die Fähigkeit, seine Anlage zum Fragen zu entwickeln. Dieser psychische Raum des Fragens ist genußbringend, er garantiert das Überleben des Lebenden durch die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, aber nur insofern das Subjekt fähig ist, sich der Autorität oder auch einfach nur der Grenze des Anderen entgegenzustellen. Genuß der Liebe, gewiß, aber der Liebe als Konflikt: in einem Zustimmung und Verweigerung, Freude und Leid.
Freud hat diesen Konflikt in seinen Arbeiten, die das Verhältnis des Menschen zum Sinn grundlegend erneuerten, herausgestellt. Als Kontrapunkt zur Versöhnung des Menschen in seiner Isolierung gegenüber Gott (coram Deo esse), die uns die Augustinische Wiedererinnerung nahelegt, entschleiert die psychoanalytische Anamnese die Permanenz des Konflikts als Bedingung des psychischen Lebens. Augustin hatte diese Perspektive bereits eröffnet, indem er seine Bibellektüre der hellenischen Autarkie aufpfropfte. Freud folgte ihm, ohne es zu wissen, und bezog sich dabei ebenfalls auf die Bibel, stützte sich jedoch ausdrücklich auf die Tragödie des Ödipus, um ein dramatisches, unversöhnbares Wesen zu entdecken. Die christliche Eschatologie hatte diesen Konfliktcharakter nur wiederbelebt, um ihn durch die Liebe zum LEBEN im Leben zu befrieden. Diese Befriedung gelang dank einer subtilen Verschränkung des Leben als mimesis, das heißt der Ähnlichkeit mit dem Sein, und dem Leben als Fragen, ausgehend vom Raum zwischen Geburt und Tod. Indem sie ihrerseits diesen Erfolg befragt, rückt Arendt eine moderne Frage par excellence in den Vordergrund: die Frage des Konflikts und der Revolte, die beide mit der conditio humana als psychisches Leben und als absolutes LEBEN untrennbar verbunden sind – wobei sie die Genealogie bis zum Kern des Augustinischen Denkens zurückführt. Ohne die psychoanalytischen Folgen der Augustinischen Entdeckung festzuhalten, wird Hannah Arendt dennoch gegen Ende ihres Lebens erkunden, was Augustin als die Hauptfähigkeit der so fokalisierten menschlichen Innerlichkeit betrachtete: den Willen74, und sie wird dessen Dekonstruktion ins Auge fassen.
Schließlich ist es nach der Geburt und dem Konflikt der Nächste, der bei Augustin den Begriff des »Lebens« bildet, den Arendt während ihrer gesamten Arbeit ständig »demontieren« wird. Doch wie kann es einen Nächsten, einen »anderen« geben, wenn die Welt verboten ist? Der Nächste ist zuallererst durch die »Eltern« vertreten, mit denen ich von Geburt aus verbunden bin (cognatio), das heißt mit der großen Familie der Nachfahren Adams. Wir treffen hier erneut auf das Thema des konkreten historischen Lebens, das uns durch unsere gemeinsame Abstammung von Adam in den socius taucht. Was jedoch den Augustinischen Menschen in der wesentlichen Verdopplung seines Lebens zwischen ewigem und gegenwärtigem Leben interessiert, ist nicht die Singularität dieses bestimmten Verwandten, sondern einzig das, was allen gemeinsam ist: unsere gemeinsame Sünde und unser gemeinsames Heil im Leben des erlösenden Christus. Ich stehe dem einzelnen Leben des Nächsten gleichgültig gegenüber, denn worauf es mir in diesem Leben ankommt, ist etwas anderes, das Selbst sieht sich selbst nicht mehr und seinen Nächsten »nur noch in der absoluten Distanz«75. »Du liebst in ihm nicht, was er ist, sondern was du möchtest, daß er sei (quod vis ut sit)«76. Und Augustin betont: »volo ut sis«, ich will, daß du seiest – dieser an einen anderen gerichtete Wille impliziert die Sorge nicht um eine individuelle moralische Vervollkommnung, sondern darum, den anderen zu dieser Entzückung, dieser Ausdrücklichkeit seines eigenen Seins zu bringen (rapere ad Deum).77 Man findet in den Schriften Arendts mehrfach die Augustinische Formel volo ut sis, die von Heidegger in einem an Hannah im Mai 1925 gerichteten Brief benutzt wird, aber auch – er schreckte nicht davor zurück, sich bei den geliebten Frauen zu wiederholen – im Briefwechsel mit einer anderen intimen Freundin, Elisabeth Blochmann, 1927.78
Die »Innovationen« Augustins, insbesondere die Möglichkeiten, die er dem Leben bietet, geschichtlich zu werden – immer mit der wesentlichen Glückseligkeit verknüpft –, rufen bei Arendt nacheinander Zustimmung und Verlegenheit hervor. So impliziert der Durchgang des Menschen durch die Geburt (generatione) Gleichheit, Vielfältigkeit, Abstammung, sündige Natur, Tod, kurz ein Aufsichnehmen der »menschlichen Gattung« und zerbricht völlig die Autarkie des Hellenismus. Mehr noch erhält der Begriff des »Nächsten«, der aus dieser menschlichen Gattung hervorgeht, einen neuen Sinn, der vor Augustin nicht explizit gegeben war: Die von Geburt an sündige Gleichheit wird ein frei gewähltes Miteinander, das erneut für jeden zwingend ist. Über den Umweg der Bibel, Adams und des Schöpfers skizziert Augustin nach Arendt eine Möglichkeit des Lebens in der Welt, die nicht nur ein »Geworfensein« in die Fremdheit ist. Hier setzt eine implizite Diskussion mit Heidegger ein, die in den späteren Arbeiten Arendts deutlicher wird: Dabei handelt es sich um ein vertrautes Leben, das durch die Verwandtschaft in der generatione die Frage des Anderen als »neues Leben« stellt und an die extremste Vergangenheit erinnert, den Tod und das Außerweltliche. Die Verbindung der »alten Gemeinschaft« (societas) mit diesem »Anderen«, wird sie möglich sein? Oder unmöglich? Wird sie anders sein als in der Anonymität des »Man«, nämlich in gegenseitiger, die wechselseitige Abhängigkeit auflösender Liebe (diligere invicem)?
Jahrhundertelang ist die katholische Theologie dem von Augustin eröffneten Weg gefolgt, den Arendt in ihrer Weise evoziert und entwickelt. Der Welt fremd, lebt der Mensch weiter in der Welt: Dem anderen vertraut und gleich, kann er sich ihm nur verbinden, indem er das alte Leben zugunsten eines neuen LEBENS in Christus auflöst. Die »neue Gemeinschaft« des Lebens wird möglich, gleichwohl nur im Leiden (durch Übertreibung der Zugehörigkeit zum Körper Christi’) und in der Isolierung (bei der der andere nur die Funktion eines »Übergangs« in der unmittelbaren und einsamen Beziehung zu Gott einnimmt). So gelebt ist das Leben eine ständige Alteration des Menschen, eine Sorge, die sich aus der Tatsache ergibt, daß er selbst und seine Nachkommen in Gefahr sind, aber auch daraus, daß die Personen durch die Gnade gerettet werden können, dank der Vermittlung einer gemeinsamen Sorge um den Nächsten in einem Leben der Liebe: volo ut sis. Dieses Leben als Alteration, dieses Leben als Verdopplung, das von der Lektüre Arendts erneuert wird, erweist sich der historischen Versprechen und Verwirklichungen СКАЧАТЬ