Название: Das weibliche Genie. Hannah Arendt
Автор: Julia Kristeva
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783863935665
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Wenn es aber weder das Erteilen von Befehlen noch deren Ausführung, weder die Ausübung eines Einflusses, noch die Unterwerfung unter diesen ist, was definiert dann eine Frau? »Wissen Sie, wesentlich ist für mich: Ich muß verstehen. Zu diesem Verstehen gehört bei mir auch das Schreiben. Das Schreiben ist, nicht wahr, Teil in dem Verstehensprozeß. […] Und wenn andere Menschen verstehen – im selben Sinne, wie ich verstanden habe –, dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatgefühl.«56 Hinter der Bescheidenheit dieser Haltung der »Verstehenden« verbirgt sich ein großer Reichtum an Bedeutungen. Die Verstehende – Mit-Nehmende57 wartet ab, akzeptiert, empfängt: Offener Raum, läßt sie sich bewohnen, berührt sie, geht sie mit (cum-, com-), Matrix des gelassenen »Sich-gehen-lassens« (Heidegger betont die Gelassenheit), das sich befruchten läßt. Aber die Mit-Nehmende nimmt auch: Sie wählt, entreißt, knetet, verformt die Elemente, sie eignet sie sich an und erschafft sie neu. Gemeinsam mit den anderen, aber kraft ihrer eigenen Wahl, ist die Mit-Nehmende jene, die einen Sinn entstehen läßt, dort, wo der Sinn der anderen, verwandelt, zu lesen ist. An uns ist es, diesen Denkprozeß in actu zu entziffern, der sich konstruiert-dekonstruiert.
Kann man von einem Werk sprechen? Gewiß. Unsere akademischen und Verlagsgewohnheiten bezeichnen ohne den Schatten eines Zweifels Hannah Arendt als Autorin eines Werkes (eines politischen?, philosophischen?, femininen? Lassen wir die Frage im Moment offen.), und zwar eines der wichtigsten Werke des Jahrhunderts. Der schneidende Stil, die Knappheit, das Tempo, die gewaltige, sich dennoch niemals erschöpfende Gelehrsamkeit ihrer Schriften wurden anerkannt; Wiederholungen und die Heterogenität ihres Stils haben die Spezialisten aller möglichen Richtungen provoziert; doch vor allem durch ihre Verankerung in persönlicher Erfahrung und im Leben des Jahrhunderts machen diese Texte weniger den Eindruck eines Werkes als den eines Handelns. Die unbestreitbare Besonderheit von Hannah Arendt offenbart sich hier: Sie feilt nicht aus, noch vollendet sie, ebensowenig wie ihr Diskurs über dem Kampfgetümmel schwebt. Die Verstehende greift den Ball im Fluge auf, befragt die »Fakten«, führt den Dialog mit den sichtbaren oder versteckten »Autoren«, steht in ständiger Wechselwirkung mit den anderen, und mit sich selbst zu allererst. In diesem polemischen Labyrinth beraubt sich das Denken vielleicht einer zugespitzten Reinheit, doch dies, um besser mit den vorangegangenen Erinnerungen (im Plural) in Einklang zu stehen und auf den Weltenlauf einzuwirken.
Ein Foto vom Ende der fünfziger Jahre gibt meiner Ansicht nach das verwirrendste Bild der »Verstehenden«. Die Anspannung zu durchdringen (Heidegger sagt: durchschauen, Durchsichtigkeit), an das Licht des Tages zu bringen, gibt ihrem Gesicht einen männlichen Ausdruck und eine ironische Gier. Dabei bleiben das erobernde Lächeln und der Blick von einer flüchtigen Sanftheit erleuchtet, die ebensosehr Vertrauen wie Komplizität ausdrückt und vermittelt. Doch die Reife und der intellektuelle Kampf haben das junge liebliche Mädchen mit den langen Haaren, das mit achtzehn seinen Marburger Platon verführt hatte, verschwinden lassen. Selbst die Jungenhafte mit der Zigarette, die mit konzentriertem Profil die Aufmerksamkeit der Zuhörer einer Vorlesung in New York 1944 herausforderte, ist plötzlich rigoros erstarrt.
Hannah Arendt verabscheute die Berühmtheit, aber sie zelebrierte immer wieder das Erscheinen und das Schauspiel: Sie hätte sicher nichts dagegen gehabt, daß man den Spuren nachgeht, die ihre Erscheinungen hinterließen. Angesichts dieses Fotos (vgl. Anhang, Abb. 4) kehrt die ewige Frage wieder: Was ist eine Frau? Ist sie allein das »Phallus-Girl«, das Aufrichten eines weiblichen Modells, das die phallische Lust der Männer anheizt und das Psychoanalytiker, ohne zu zögern, in der verführerischen Frische des »schönen jungen Mädchens« von 1927 (Abb. 1) und von 1933 (Abb. 2) entziffern würden? Um so mehr, als eine Verführerin, insbesondere wenn sie denkt, selten frei ist von den Zweideutigkeiten des Androgynen.58 Ist sie die Mutter unserer Träume mit den freigebigen Brüsten, die magische Kompensatorin unserer Frustrationen – in allererster Linie der oralen? Zwar finden wir Hannah im ersten Bild wieder, doch im zweiten scheint sie sich verweigert zu haben. Oder ist sie endlich die »Verstehende« (Abb. 4), deren Bild die Frauenmagazine, die über »Ihre Schönheit« wachen, eher in die Flucht jagen würde? Ihr Gesicht drückt bis zur Karikatur die Härte des Kampfes aus, die sie dazu brachte, zu verstehen. Ohne dieses angespannte Engagement bleibt der Geist irrealisiert, unsichtbar; aber wenn er erscheint, zieht sich die Weiblichkeit – wie das Sein? – zurück, und von den beiden Geschlechtern besetzt allein das männliche, ohne sich zu genieren, die Bühne. Im Aushandeln ihrer psychischen Bisexualität bietet das Bild Hannah Arendts Ende der fünfziger Jahre das Zeugnis einer virilen Entfaltung. Wir werden darin weder eine irreführende Maske sehen, die dazu bestimmt ist, die Integration einer Frau in einen Männerberuf zu erleichtern, noch einfach die unbewußte Wahrheit einer Homosexuellen, die sich als solche nicht kennt. Aber der notwendige Weg dieses Denkens in actu, dieses gedachten Handelns, ist bei Arendt ein Synonym des Lebens.
10Vgl. Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt – Leben, Werk und Zeit, Frankfurt am Main 1996, und die Monographie von Sylvie Courtine-Denamy, Hannah Arendt, Paris 1994
11Vgl. Hannah Arendt, »Was bleibt ist die Muttersprache« (Fernsehinterview mit Günter Gauss 1964), in: dies., Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. v. Ursula Ludz, München, Zürich 1996, 3. Aufl. 1998, S. 44-70
12Ebd., S. 50-52
13Ebd., S. 57
14Ebd.
15Ebd., S. 62
16Ebd., S. 68
17Vgl. ebd., S. 75-76
18Ebd., S. 64
19Ebd., S. 53
20Hannah Arendt, »Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt«, in: dies., Menschen in finsteren Zeiten, a. a. O., S. 174-177. Hannah schrieb diesen Text fünfundvierzig Jahre später, nach wie vor Denken und Leben identifizierend, wie sie es seit ihrer Jugend und in ihrer Beziehung zu Heidegger getan hat. Vgl. in diesem Sinn auch ihren weiter unten zitierten Brief an Heidegger vom April 1928.
21Vgl. Elzbieta Ettinger, Hannah Arendt – Martin Heidegger. Eine Geschichte, München, Zürich 1995, 3. Aufl. 1998, sowie den Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, aus den Nachlässen hg. v. Ursula Ludz, Frankfurt am Main 1999
22Dokument 15, in: Hannah Arendt, Martin Heidegger, a. a. O., S. 30
23Hannah Arendt über Rahel Varnhagen, zit. nach Elisabeth Young-Bruehl, a. a. O., S. 96-97
24Vgl. Elzbieta Ettinger, a. a. O., S. 41
25Brief vom 22. April 1928, Dokument 42, in: Hannah Arendt, Martin Heidegger, a. a. O., S. 65-66
26Vgl. ihren Artikel »What is Existenz Philosophy?«, in: Partisan Review, Nr. СКАЧАТЬ