Название: Das weibliche Genie. Hannah Arendt
Автор: Julia Kristeva
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783863935665
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Man ist also versucht, in diesem Jugendwerk und in der entwickelten Komplexität des Begriffs des Lebens nach Augustin nicht nur die Verarbeitung der »Lieben« zu sehen, die Hannah Arendt in dieser Periode ihres Lebens durchlebt – und in deren »Schatten« (1925) ihre Qual zum Ausdruck kommt –, sondern auch den Keim ihrer späteren Überlegungen. Als die entsetzliche Aktualität des Nazismus und des Stalinismus sie dazu bringt, die sozialhistorischen Ursachen des Totalitarismus zu denken79, wird sie zu den Logiken des Lebens unter den Begriffen der conditio humana zurückkommen, um eine Hierarchie in der Verknüpfung menschlicher Erfahrungen aufzustellen: vita activa einerseits, vita speculativa andererseits, und innerhalb der ersten, drei Typen von Tätigkeit: Arbeit, Werk, Handeln.
Arendt stützt sich auf das Leben des Denkens und kritisiert die metaphysische Tradition, die das kontemplative Leben auf Kosten des aktiven Lebens privilegiert. Sie bemüht sich, letzteres aufzuwerten, wobei sie geltend macht, daß die Tätigkeit das Leben sichert. Dabei ist Vita activa80 auch Anlaß zu einer heftigen Ablehnung des Begriffs des »Lebens« als nihilistischer Wert par excellence. Sie verurteilt heftig den vitalistischen Aktivismus, der den homo faber vergöttlicht, ihn aber letzten Endes in die Robotisierung einer »berechnenden«, jedoch nicht »denkenden« Erkenntnis einschließt. Als Echo auf Augustins Betrachtung über das »vernachlässigbare« Leben, sofern es nicht in der Liebe des beate vivere und des summum esse verstanden ist, kritisiert Arendt die Konsumideologie, in der das menschliche Leben versinkt, wenn es das Bleibende vergißt.81 Sie verurteilt den Kult des »individuellen Lebens« und mehr noch den des »Lebens der Gattung«, das sich als modernes höchstes Gut durchsetzt, jedoch ohne Rückgriff auf irgendein Streben nach Unsterblichkeit. Diese wird durch den Lebens-«Prozeß« ersetzt, der sich als nihilistischer Grundwert aufrichtet. Im Laufe der langwährenden paradigmatischen Veränderung, die von der Technik und der Wissenschaft gestützt wird, richtet sich Arendt ganz besonders gegen Marx, der die Menschen naturalisiert, indem er nahelegt, daß »der Denkprozeß selbst ein Naturprozeß«82 geworden ist. Sie verschont aber auch nicht die Verbissenheit der Wissenschaftler, die den Triumph des animal laborans unter der Maske einer Sakralisierung des Lebens an sich, ohne jeden Bezug zum Anderen, sichern.
Diesen Entgleisungen stellt Arendt ein »spezifisch menschliches« Leben entgegen: Der Ausdruck bezeichnet das »Intervall zwischen Geburt und Tod« unter der Bedingung, daß es durch eine Erzählung dargestellt und mit anderen Menschen geteilt werden kann. Eine großartige Umgestaltung ihrer Jugendlektüre Augustins, gestützt auf ihre spätere politische Erfahrung als Philosophin und Frau kündigt sich wie folgt an: »Das Hauptmerkmal des menschlichen Lebens, dessen Erscheinen und Verschwinden weltliche Ereignisse sind, besteht darin, daß es selbst aus Ereignissen sich gleichsam zusammensetzt, die am Ende als eine Geschichte erzählt werden können, die Lebensgeschichte, die jedem menschlichen Leben zukommt und die, wenn sie aufgezeichnet, also in eine Bio-graphie verdinglicht wird, als ein Weltding weiter bestehen kann. Von diesem Leben, von dem bios zum Unterschied von zoe, hat Aristoteles gemeint, daß es ›eine praxis ist‹«.83 Die Möglichkeit, sich Geburt und Tod vorzustellen, sie in der Zeit zu denken und sie dem Anderen mitzuteilen durch das Teilen mit den anderen – kurz, die Möglichkeit zu erzählen – legt den Grund für das Spezifische, nicht Tierische, nicht Physiologische des menschlichen Leben. Arendt rehabiliert die Praxis des Erzählens, indem sie sich implizit auf Nietzsches Begehren nach Leben im »Willen zur Macht« bezieht, und auf die Interpretation Nietzsches durch Heidegger, der den Biologismus dieses »letzten Metaphysikers« im Sinne der Gelassenheit des poetischen Sagens umdeutet. Die Politologin verwirft den ruhigen Rückzug des poetischen Werks, denn für sie vollenden allein das Handeln als Erzählung und die Erzählung als Handeln das Leben in seinem »spezifisch Menschlichem«. Diese Auffassung, deren aristotelische Herkunft wir weiter unten betrachten werden, verschmilzt das Schicksal des Lebens, des Erzählens und der Politik: Die Erzählung bedingt das dauerhafte Wesen des Kunstwerkes, aber es begleitet auch als historische Erzählung das Leben der polis, um im edlen Sinne des Wortes aus ihm ein (bereits seit den Griechen bedrohtes) politisches Leben zu machen.
Schließlich gelangen die Überlegungen Hannah Arendts zu einer dritten Etappe: Ohne aufgegeben zu werden, zieht sich die Meditation über die vita activa ins Implizite zurück, um sich inmitten der Reflexion über das »Leben des Geistes«84 zu verankern, dessen drei Komponenten sie erhellt und dabei »demontiert«: das Denken, den Willen, das Urteil. Doch der Auftakt dazu ist in Vita activa bereits gegeben: Wenn es zutrifft, daß man nicht ungestraft die Hierarchie der menschlichen Aktivitäten (Arbeit, Werk, Handeln; vita activa – vita contemplativa) umwirft, daß jene Umwälzungen zugleich das Denken und das Leben bedrohen, indem sie sowohl das eine wie das andere zerstören, dann ist es dringend erforderlich, das Leben zu retten, indem man auf die ständige Erkundung seiner Verdopplung, seiner Alteration und der sich daraus ergebenden komplexen Figuren zurückkommt. Als Erbin der Verflechtungen von Leben und Denken, wie sie der christlichen Eschatologie und der Philosophie eigen sind, verknüpft Arendt die Geschichte mit der Dekonstruktion des Geistes, um zu beweisen, daß das Leben kein »Wert« an sich ist, wie es die humanistischen Ideologien suggerieren, sondern sich nur erfüllt, wenn es nicht aufhört, sowohl den Sinn als auch die Handlung zu befragen: »…die Charaktere des Handelns […], die es zu einem so eminent menschlichen Vermögen machen, die Enthüllung der Person auf der einen Seite und das Hervorbringen von Geschichten auf der anderen, die zusammen die Quelle bilden, aus der sich in der Menschenwelt selbst ein Sinn formiert, der dann wiederum als Sinnhaftigkeit das menschliche Treiben zu erhellen und zu erleuchten vermag.«85
Die häufigen Sorgen, die sich Hannah Arendt um das Leben und den Sinn macht, ermächtigen uns zu weiteren Gedanken, deren Aktualität sich von den Fragen unserer Autorin entfernt, deren Einsatz jedoch in ihren Fragen implizit enthalten ist.
Das Handeln, selbst im Arendtschen Sinn verstanden, ist allein nicht fähig, den Menschen ein kreatives und freies Leben zu sichern: Nur das erneute Sichöffnen des »Lebens des Geistes« ist – wie die Theoretikerin im letzten Teil ihres Werkes gezeigt hat – imstande, dies zu leisten. Trotz ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Psychoanalyse (in der sie eine szientistische Reduktion des »Lebens des Geistes« auf Gemeinplätze sah), verbindet das Leben des Geistes im psychischen Raum, der dem der anderen und der Welt gegenüber offen ist, die Forderung der Praxis mit der eines unendlich zu befragenden Sinns – zweifacher Anspruch, der Arendt besonders wichtig war. Heute bestreitet niemand, daß die Arbeit die Angestellten der Showgesellschaft zu Robotern macht. Das Kunstwerk selbst löst sich auf in der Häßlichkeit und im Minimalismus des Nicht-Sinns. Und das politische Handeln, weit davon entfernt, eine »Enthüllung« zu sein (disclosure im englischen Text), ist nichts als Parodie und Leere, erzeugt von mehr oder weniger korrumpierbaren Marketing-Ingenieuren. Abgesehen davon erscheint uns nach wissenschaftlichen, philosophischen ebenso wie psychoanalytischen Forschungen – ein multidisziplinäres Herangehen, das Arendt in ihrer Weise und mit Bescheidenheit praktizierte, ohne die »reine Philosophie« für sich in Anspruch zu nehmen, sondern nur die hybride »politische Theorie«, ja sogar den »politischen Journalismus« – das »Leben des Geistes« durch eine vielfältige Komplexität konstituiert, die aus pluralen Vorstellungslogiken besteht. Diese berühren nicht ausschließlich das Denken, den Willen oder das Urteil, obwohl sie versuchen, auch diese so genau wie möglich zu erfassen. Die Pluralität, um die es hier geht, läßt auch dank dieser logischen Kategorien oder Fähigkeiten die noch wenig beachteten Abgründe des sinnlich Wahrnehmbaren und des Darstellbaren zu Wort kommen.
Die Erzählung, die Fähigkeit, eine Biographie zu formulieren, wird in diesem Kontext ebenso notwendig wie problematisch, ebenso СКАЧАТЬ