Название: Das Anthropozän lernen und lehren
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Pädagogik für Niederösterreich
isbn: 9783706560832
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Das Waldviertel war zur Zeit der Gründung des Stiftes keineswegs so unbesiedelt wie man meinen könnte und so sind westlich des Stiftes jene drei Orte verzeichnet, die schon vor dem Kloster existierten.10 Nämlich die Stadt Zwettl, die Pfarrkirche und ein nicht näher bezeichnetes predium, wahrscheinlich die Burg auf dem heutigen Propsteiberg. Außerdem handelt es sich bei Zwettl um keine abgelegene Gegend. Denn wie wir auf der Karte sehen, kommt der Polansteich (für „Steig“) von Südosten her und führt der Pehemsteich im Norden weiter. Diese zwei Straßen sind die beiden Hauptverkehrswege des Waldviertels und sie kreuzen sich in Zwettl.11 Wenn man mit der Gegend vertraut ist, erkennt man in dem als Spruchband gestalteten äußeren Kreis die gesamte Geografie der Gegend wieder. Oben links beginnend in Richtung (Groß-)Gerungs und Gutenbrunn, die ganze Runde bis nach Reichers und am Ende Weißenbach. Vergleicht man diese Angaben mit einer aktuellen Straßenkarte, so wird klar, dass es sich um eine genaue Beschriftung des Wegenetzes handelt.
Abbildung 1: Darstellung des Umritts in der Zwettler „Bärenhaut“ (Stiftsarchiv Zwettl, Hs. 2/1, fol. 12r).
Schlussendlich ist es aber nicht nur eine Straßenkarte, es ist auch andere Infrastruktur, wie Betriebe oder bewirtschaftete Fluren, die in die Grundherrschaft des Stiftes Zwettl fallen, eingezeichnet, angefangen vom Wald in Rabenthan, den Dörfern Salmans oder Gradnitz bis hin zum Klosterwald oder dem Forst in Reinprechtspruck, aber auch Naturerscheinungen wie etwa die Felsen bei Moidrams, wo der Umritt begann. Alle diese Informationen sind sehr genau in die natürlichen Voraussetzungen eingebettet, und dieser Naturraum wird von zwei Spruchbändern durchzogen, die als einzige die Begrenzungen des Kreises durchstoßen. Quer über das ganze Bild fließt der Kamp: Fluvius qui maior Champ dicitur, fluens cum Zwetlensi fluvio iuxta claustrum et contra orientem largiter derivatur, zu deutsch: Ein Fluss, der großer Kamp genannt wird, fließt durch den Fluss Zwettl vergrößert beim Kloster in Richtung Osten vorbei. Das Spruchband des Flusses Zwettl kommt aus dem Norden und mündet genau beim Wort Zwetlensi in das Band des Kamps, an dem das Wort Zwettl steht (Abb. 2). Das ist einzigartig, genauso wie die gesamte Karte.
Abbildung 2: Das Detail zeigt die Mündung der Zwettl in den Kamp, dargestellt als zwei Spruchbänder in der Umrittsdarstellung der Bärenhaut (Stiftsarchiv Zwettl, Hs. 2/1, fol. 12r – Ausschnitt).
Als diese Grafik Anfang des 14. Jahrhunderts in die Bärenhaut gezeichnet wurde, existierte das 1138 gegründete Stift Zwettl schon fast 200 Jahre lang. Warum überlegte man sich gerade zu dieser Zeit so ein Projekt? Was wird hier eigentlich vermittelt, und wer soll damit angesprochen werden?
Gehen wir einen Schritt zurück. Das Stift Zwettl wurde auf einer Halbinsel in einer Schlinge des Kamps gegründet. Der Fluss entspringt im Weinsberger Wald und mündet nach 153 Kilometern Flusslänge im Tullnerfeld in die Donau. Schon der keltische Name ist einer der ältesten Sprachtermini der Region und bedeutet „krumm“ bzw. Krümmung.12 Er weist auf die ersten noch vorrömischen Besiedlungen der Gegend des silva nortica oder „Nordwaldes“ hin, eines Urwalds, der zuerst von slavischen Gruppen besiedelt war und ab dem 11. Jahrhundert sukzessive unter die Kontrolle der Babenberger gebracht wurde. Zuständig für die Inbesitznahme und Kolonisierung dieses Gebietes waren die Kuenringer, die als Dienstleute der landesfürstlichen Babenberger das gesamte Territorium entlang dieses Flusses erschlossen.13
Die Zisterzienser übernahmen im 12. Jahrhundert eine wesentliche Rolle für die Umwandlung der Natur- in eine Kulturlandschaft.14 Sie sind ein Reformorden der Benediktiner, die schon im Frühmittelalter mit ihren Reichsklöstern eine wesentliche Stütze des karolingischen Herrschaftssystems darstellten und in ihrer langen Kontinuität das gesamte europäische Mittelalter prägten. Benediktinerklöster sind – zumindest theoretisch – Institutionen, die in kultivierten Gegenden, meistens an beherrschender Stelle auf Hügeln gelegen, wie z.B. Melk und Göttweig, geistige Zentren bildeten und maßgeblich für das religiöse und kulturelle Leben des Mittelalters waren. Auf Basis der Bibeltexte adaptierten bzw. rechtfertigten die Mönchsorden die jeweiligen gesellschaftspolitischen Umsetzungen in der „Zähmung der Wildnis“, der Unterwerfung der Natur unter die Bedürfnisse des Menschen.15 Diese Texte werden von den frühmittelalterlichen Kirchenvätern vertieft gedeutet und weiterentwickelt. Die gebildeten Kleriker kennen sie fast auswendig, arbeiteten auch mit der Naturgeschichte des Plinius, dem Kräuterbuch des Dioscurides oder den Tierbeschreibungen des Physiologus.16 Sie lieferten die meist heilsgeschichtlich ausgerichteten Konzepte für den Umgang mit dem Lebensraum. Dahinter steht die Christianisierung Europas, in der sukzessive die Natur entmystifiziert bzw. entzaubert und damit unter Kontrolle gebracht werden soll. Die nötige Organisationskompetenz für Kolonisierung und Urbarmachung der Territorien kommt weitgehend von den alten Orden, die mit ihrem Bildungsmonopol antikes Wissen in ihre Theologie integrieren und diese Denkgebäude mit praktischen Erfahrungen zu einem Organisationswissen formen. Unser westliches naturwissenschaftlich-technisches Verständnis des Planeten nimmt hier seinen Ausgang. Ein bedeutendes Beispiel in diesem Zusammenhang ist der St. Gallener Klosterplan aus dem beginnenden 9. Jahrhundert, in dem das Kloster eine eigene, nach außen abgeschlossene Welt ist.17 Diese klösterlichen Institutionen mit ihren Gelehrten und ihrer auf religiösen Vorstellungen basierenden zeitweiligen Deutungshoheit waren federführend in der Tradierung und Weiterentwicklung von Konzepten für den Umgang mit der Natur. Ihre Ideen werden in der Bearbeitung der Landschaft umgesetzt.18
Besonders gut nachvollziehbar sind die normativen Konstrukte der Zisterzienser, die es als Aufgabe sahen, zurück in die Natur zu gehen, dorthin wo es entlegen, unwirtlich und karg war, wo keine Zivilisation herrschte. Ein halbes Jahrtausend nachdem der Ordensgründer Benedikt sein Regelwerk verfasst hatte, fokussierten sich die Zisterzienser wieder auf Askese, Bildung und körperliche Arbeit. Sie betrachteten ihr Kloster als eine arbeitsteilig organisierte Gemeinschaft, die sich in einer Art Subsistenzwirtschaft von der äußeren Welt und ihren Einflüssen unabhängig versorgen kann. Die „Weißen Mönche“ wollten der unfruchtbaren, ungezähmten Natur unter größter Anstrengung ihre Früchte abtrotzen. Berühmt ist die Passage aus den 1134 festgeschriebenen Regeln des Generalkapitels: In Städten, Befestigungen oder Dörfern ist keines unserer Klöster anzulegen, sondern fern vom Verkehr der Menschen, in abgelegenen Orten.19
Diese Ideen kommen aus Frankreich und sind am Puls der Zeit, und das französische Kloster Clairvaux ist auch Vorbild für Zwettl.20 СКАЧАТЬ