Название: Das Anthropozän lernen und lehren
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Pädagogik für Niederösterreich
isbn: 9783706560832
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2.4 Herausforderung des Modells: Die sozialwissenschaftliche Erzählung vom Modell des Wasserkreislaufs
In seiner Arbeit über die Geschichte unseres Verständnisses von und unseres Umgangs mit Wasser untersuchte der kanadische Geograph Jamie Linton auch die Entwicklung des Modells des Wasserkreislaufs (Linton 2010; Linton 2008). Linton zeigt eindrücklich, wie in das Modell die historischen und geographischen Umstände eingeschrieben sind, unter denen es in den USA der 1930er-Jahre entstanden ist: eine Gesellschaft in einem nördlichen, gemäßigten Kima, die sich mitten in der modernen, staatlich gelenkten industriellen Entwicklung (Fordismus) befand, und in der die „Natur“ zunehmend der nationalen Kontrolle unterworfen wurde.
Ganz entsprechend dem gemäßigten Klima, in dem das Konzept entstand, stellt das Modell des Wasserkreislaufs Wasser als einen konstanten, zyklischen Fluss dar, der relativ regelmäßig von Monat zu Monat und Jahr zu Jahr verteilt ist. Das Modell des Wasserkreislaufs stellt damit „eine Norm auf, die im Widerspruch zur hydrologischen Realität eines Großteils der Welt steht und gleichzeitig die hydrologischen Erfahrungen einer großen Zahl von Menschen falsch darstellt“ (Linton 2008, S. 639, Übersetzung H.E.). Die Annahme einer solchen Norm hat den Effekt, Erwartungen zu konditionieren und Einschätzungen zu rahmen. Das Modell des Wasserkreislaufs trägt somit dazu bei, „ein seit langem bestehendes westliches Vorurteil gegen Trockenheit aufrechtzuerhalten, wonach Orte (und oft auch die Menschen, die sie bewohnen), in denen es nicht ‚ausreichend‘ regnet oder die ‚heftigen‘ Schwankungen der saisonalen und jährlichen Niederschläge ausgesetzt sind, als mangelhaft, anormal und hydrologisch korrekturbedürftig angesehen werden müssen“ (ebenda).
2.5 Konsequenzen des Modells für unsere Weltwahrnehmung
Aufgrund der in das Modell eingeschriebenen Vorstellungen von „normal“ beeinflusst das Konzept des Wasserkreislaufs unsere Wahrnehmung und Darstellung von Wüsten, Trockengebieten und tropischen Regionen als deviant (= von der Norm abweichend). Mit dieser Wahrnehmung und Darstellung ist ein „Urteil“ verbunden, indem wir jene Regionen anders als „uns“ (und d.h. in der Regel als minderwertig) beurteilen, als „jeweils unfruchtbare, arme, unzivilisierte, gesetzlose und gewalttätige Orte (und Völker), die das Eingreifen hydrologischer Technik erfordern, um zivilisiert zu werden“ (ebenda, S. 640). Auf der Grundlage dieser Beurteilung rechtfertigen wir den Bau von Dämmen und Stauseen ebenso wie die hydraulische Manipulation von Bächen und Flüssen. Auch das Bohren von Brunnen hat sich zu einer nahezu reflexartigen Maßnahme jeglicher „Entwicklungshilfe“ entwickelt, ungeachtet der geologisch-ökologischen Bedingungen vor Ort und ungeachtet der etablierten kulturellen Praxis im Umgang mit dem natürlich vorhandenen Wasser.
Jamie Lintons Studie über Wasser zeigt an dem sehr konkreten Beispiel des Modells des globalen Wasserkreislaufs, wie sich Wissen in spezifischen sozialen und geographischen Kontexten herausbildet, sich daraus eine zeitlich und örtlich begrenzte „sinnstiftende Erzählung“ entwickelt, die dann von ihrem Entstehungskontext unabhängig wird und stabile Muster der sozialen Wahrnehmung und Beurteilung herausbildet. Die „Sinnstiftung“ der Erzählung liegt darin, dass sie eine leicht verständliche und fast praktische Anleitung für die Sinneswahrnehmung unseres Seins in dieser Welt ermöglicht, die sich zudem in andere Wissensbestände einfügt und so die Komplexität der Welt um uns herum weitgehend reduziert. Gleichzeitig lässt Jamie Lintons Analyse den Schluss zu, dass das Modell des Wasserkreislaufs zum einen dazu beigetragen hat, unseren Umgang mit Wasser in einer nicht-nachhaltigen Weise zu strukturieren und zum anderen, Vorurteile zu bestärken und soziale Ungleichheit zu manifestieren. Das Modell ist daher weder nachhaltig noch global gültig. Mir scheint es an der Zeit, dass wir nach angemesseneren Wegen für unsere Wahrnehmung von und unseren Umgang mit Wasser suchen.
Exkurs 2: Erkenntnistheoretische Fragen im Anthropozän
Die Hypothese des Anthropozäns verweist auf eine Welt komplexer dynamischer Strukturen, mit selbstorganisierenden und selbstreferenziellen Phänomenen, bei denen wir Menschen als einer von mehreren untrennbar miteinander verflochtenen Treibern hochwirksam sind. Pointiert könnte man sagen, dass unsere traditionellen Sichtweisen von Epistemologie und Ontologie in einer Welt entwickelt wurden, die einfacher und langsamer gewesen zu sein schien. Zumindest hatten wir aufgrund der grundsätzlichen Trennung von Natur|Kultur, Sinn|Materie, Leib|Seele usw. den Eindruck, dass sich unsere Wirklichkeit leichter in Segmente und Einheiten unterteilen ließ, die mithilfe von Spezialwissenschaften losgelöst von allem anderen en detail untersucht werden können. Die grundlegend veränderte Situation im Anthropozän dagegen benötigt andere Zugänge, solche, die Prozesse anstelle von Objekten in den Mittelpunkt stellen (z.B. Whitehead 1987; Sohst 2009), und gleichsam den Blick auf das Dazwischen und nicht auf voneinander getrennte Entitäten richtet. Eine Perspektive also, die weder die Materialität der Welt als unabhängig und losgelöst von uns Menschen, noch uns Menschen als unabhängig und losgelöst von der Materie begreift (vgl. Egner 2017b). Erste Hinweise auf diese grundlegenden Veränderungen unserer Weltsicht gaben die Experimente der Quantenphysik vor knapp 100 Jahren mit dem Befund, dass der Beobachtungskontext die Beobachtung bestimmt und damit wir Menschen mit unserem Bewusstsein immer auch Teil der Experimente sowie Teil unserer Wissenschaft sind. In die Physik ist dieses Wissen mittlerweile integriert – ihr ist bewusst, dass sie nicht mehr beschreibt, was wirklich ist, sondern das beschreibt, was sie über die Natur aussagen kann (vgl. Aspelmeyer 2018).
Auf erkenntnistheoretischer Ebene finden sich bereits Vorschläge für radikal neue Zugänge. Basierend auf quantenphysikalischer Einsicht schlägt beispielsweise Karen Barad „Phänomene“ anstelle von unabhängigen Objekten mit inhärenten Grenzen und Eigenschaften als primäre ontologische Einheit vor (Barad 2007, Barad 2012, Barad 2015). Bei ihrem Konzept des agentiellen Realismus geht es ihr um eine Ontologie, die Verbundenheit als Ausgangspunkt des Denkens nimmt und auf der grundlegenden Annahme aufsetzt, dass „Getrenntsein keine inhärente Eigenschaft der Welt“ sei (Barad 2007, S. 136). Damit begreift Barad sowohl das So-Sein von uns Menschen als auch alle Manifestationen in unserer Welt als ein Ergebnis von „Intra-Aktionen“, im Gegensatz zu „Interaktionen“ zwischen unterschiedlichen Entitäten. Sowohl die Welt als auch das Bewusstsein über die Welt entstehen nur in, durch und aufgrund ihrer wechselseitigen Verschränkung miteinander und nicht durch ihre Trennung. Barads Sichtweise auf die untrennbar verschränkte Verbindung von Bewusstsein und Materie, aus der wir selbst sowie die Welt immer wieder, und immer wieder neu, hervorgehen, erscheint mir für das Denken im Anthropozän als guter Ausgangspunkt.
3. Gedanken zum Wasserkreislauf-Lehren/Lernen im Anthropozän
Unsere Wahrnehmung hat sich durch die Hypothese des Anthropozäns für die Komplexität der Welt geöffnet – es ist daher nicht die Welt, die komplexer geworden ist, uns ist nur die Komplexität der Welt ein Stück bewusster geworden. Der „Denkrahmen“ (Sippl & Scheuch 2019) des Anthropozäns erlaubt (und erfordert) es, von einfach zu lernenden und einfach zu vermittelnden Inhalten in der Bildung mit eindeutigen Antworten wie richtig/falsch, ja/nein usw. fortzuschreiten und sich komplexeren Inhalten hinzuwenden, die eine abwägende Begründung im Sinne von „sowohl ... als auch“, „es kommt darauf an ...“ oder „mehr oder weniger ...“ erfordert und dies möglichst früh in der schulischen Bildung. Die Umsetzung so grundlegend neuer Sichtweisen beim Lehren/Lernen im Anthropozän fordert einiges, von Lehrenden wie Lernenden:
• Offenheit für verändertes Denken und ein Einlassen auf ein denkendes Erforschen auf noch nicht vorgespurten Wegen. Sowohl bei der Vorbereitung, als auch im Unterricht.
• Kompetenzen im Umgang mit Unsicherheit und Nicht-Wissen – das dürfte für Lehrende eine größere Herausforderung sein als für Schüler*innen, denn letztlich fordert es die Lehrenden dazu auf, ihren inneren Standpunkt, von dem aus sie ihre Lehre betreiben, von „wissend“ zu „denkend erkunden“ zu verändern.
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