Название: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788726482362
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Es gelang mir nicht, denn Io-Rasa, die Hausfrau, reichte mir einen Becher aus dickem Kristall. Das Mahl hatte begonnen. Es bestand aus sechs Gängen, von denen jeder in andersfarbigem und andersgeformtem Kristall gereicht wurde, dessen Hohlraum nicht viel größer war als der eines Eierbechers. Man merkt somit bereits, daß die Speisenfolge aus einer Reihe von Getränken bestand, aus drei sehr heißen und drei eiskalten. Die heißen hellrosa, ziegelfarben und bouillonbraun, die eiskalten pistaziengrün, safrangelb und cremeweiß. Dieses flüssige Menü half mir über eine verlegene Angst hinweg, die mich die ganze Zeit bedrängt hatte, daß ich nämlich mit unbekanntem Bestecke werde hantieren müssen. Dennoch sah ich den Leuten getreu auf den Mund. Sie nippten mit prüfenden, winzigen Schlücklein vom Becherrand, sehr nachdenklich, sehr träumerisch und schweigsam. So schlückerte ich denn auf dieselbe Weise das Gebotene.
Mit einiger Phantasie hätte ich schon vor dem Mahle folgern müssen, daß die feste Nahrung dem Menschengeschlechte längst abhandengekommen sei. Die bloße Vorstellung, sich vom toten Fleische zu nähren, hätte in meinen Gastfreunden wahrscheinlich ein krasseres Grauen erweckt als in mir die Vorstellung, ein Menschensteak mit Zuhilfenahme von Worcestersauce verschlingen zu müssen. Ihr Grauen aber schien sich nicht nur auf Fleisch zu beschränken, sondern ebenso auf Pflanzennahrung zu erstrecken, auf den Genuß jeder kreatürlichen, jeder geschaffenen Form und darüberhinaus sogar auf das Verzehren künstlich hergestellter Formen, als da sind Kuchen, Backwerk, Torten und so weiter. Wie weit bei dieser radikalen Entwicklung der Ernährungsgeschichte die Notwendigkeit mitwirkte, die Zähne zu schonen, konnte ich nicht erforschen. Ich wußte jedoch, daß nächst den Haaren der Abnutzungskoeffizient einer hochgereiften Natur am meisten die Zähne gefährdete. Immerhin, die Zähne, die ich sah, blitzten vor Schmelz und waren gewiß nicht künstlich. Man genoß somit nichts anderes als drei salzig-suppige, zwei fruchthaft-klare Gänge und zum Abschluß einen milchigdicklichen Trank, dies alles in den denkbar kleinsten Portionen. Nicht sofort verstand ich, warum diese Portionen so klein sein mußten. Ich gestehe, es war für mich anfangs überhaupt ein ziemlich unverständliches Essen, nein, Trinken, nein, Nippen oder Naschen.
Ich habe vorhin das altmodische und affektierte Wörtchen „schlückern“ gebraucht, wahrscheinlich, um damit mein Mißtrauen auszudrücken, daß die dargereichten Säftchen, die man beinahe nur tropfenweise schluckte, ihren Mann ernähren könnten, und sei er auch nur ein stattlicher Revenant wie ich. Bald jedoch sollte ich eines besseren belehrt werden. — Alles Essen, das wir zu uns nehmen, hat eine zwiefache Bedeutung. Es führt erstens unserm Geschmackssinn ein Erlebnis zu, und es befriedigt zweitens das Verlangen des Körpers nach Kalorien. Das Geschmackserlebnis hat es nur mit der Substanz einer Speise zu tun, die Befriedigung des Verlangens nur mit der Materie derselben Speise. Es besteht ein unzweifelhafter philosophischer Unterschied zwischen Substanz und Materie, denn die Materie ist nichts als Materie, die Substanz aber ist gestaltete Materie, Materie zur Potenz einer Wesensidee erhoben. Um ein Beispiel anzuführen: das Wasser ist Materie, das Meer ist Substanz. Einst — ich spreche von der Zeit vor meinem längst verschollenen Tode ―, einst übertraf die bei uns bei Tisch servierte Materie bei weitem die Substanz, das heißt, man mußte eine ganze Menge Fleisch essen, um das Geschmackserlebnis eines gebratenen Rehrückens durchgenießen zu können. Dieses Verhältnis hatte sich in der abgelaufenen Zeit aufs wundersamste umgekehrt. Es wurde uns hier ein Maximum von Substanz in einem Minimum von Materie serviert. Und weil bereits vom Meere die Rede ging, so muß ich es verkünden, daß der zweite Gang, jenes ziegelrote Süppchen im dicken Kristall, das Meer an sich war. Wohl richtig, auch zu meiner Zeit hatte ich vom Meere, von der Wesensidee des Meeres so manchen Bissen und Schluck verkostet. Was sind schließlich ein Dutzend Whitestable Austern, mit dem richtigen Chablis dazu, anderes als die Substanz „Meer“? Enger noch, die Wesensidee „Nordsee“? Und das Scherenfleisch eines Helgoländer Hummers mit seiner impertinent äquivoken Süßigkeit, die sich erst im Nachgeschmack ganz preisgibt? Und die billigen Portuguèses, Oursins, Violettes, die man an den Straßenecken aller südfranzösischen Häfen den ganzen lieben Tag lang feilbietet? Sind sie mit ihrem Algen- und Tangduft nicht das personifizierte Mittelmeer, diese ordinären Portuguèses? Und eine Bisque d’Hommard bei Prunier in Paris? Und eine Bouillabaisse in einem Fischerdorf zwischen Marseille und Toulon? Und eine Grancevola, eine Meerspinne, in einer venezianischen Taverne, mit ein wenig Essig und Öl und Pfeffer verabfolgt? Sie ist nicht nur Meer und Mittelmeer, sie ist eine noch näher bestimmte Substanz, die Adria. — Und doch, in den wenigen Tropfen des ziegelroten Saftes genoß ich das alles zusammen und auf einmal, und zwar auf eine schwerelose und gar nicht beschreibbare Art. Jeder der sechs Gänge entfaltete sich so zu einer geistigen Einverleibung, zu einer erkennenden Einversinnlichung bedeutsamer Substanzen kraft des Geschmackes. Man nahm ein Schlückchen zu sich, zwei, drei Tropfen. Diese Tropfen zergingen auf der Zunge und verbreiteten ihre Wärme oder Kälte, je nachdem, durch den ganzen Organismus wohlig bis in die Finger- und in die Zehenspitzen. Jetzt wurde es mir auch klar, warum man beim Essen stand, nämlich um dem Lustbehagen leichtere Möglichkeit zu geben, sich den feinsten und fernsten Nervenenden mitzuteilen. Zugleich aber mit der physischen Lust durchdrangen die angenehmsten Vorstellungs- und Bilderreihen den Geist, so daß ich wie alle andern Teilnehmer allgemach jedem einzelnen Tropfen dieses wahrhaft mentalen Mahls nachhing, nachsann, nachträumte. Zu meiner Zeit hatten allein die Hochmusikalischen mit ähnlicher Einversinnlichung etwa einer Orchesteraufführung von Debussys „La Mer“ beigewohnt, mit welcher derzeit ein Diner eingenommen wurde.
In den Pausen des Essens, so wollte es wahrscheinlich die Sitte, hielten der Wortführer, der Hausweise und der Beständige Gast längliche Reden, die ohne Zweifel an mich gerichtet waren, da ich öfters das Wort „Seigneur“ ausnehmen konnte. Ich begriff so gut wie nichts davon. Mein sonderbares geistiges Vermögen, die Sprache dieses Zeitalters schon auf den ersten Anhieb verstehn oder gar sprechen zu können, verebbte natürlich von Zeit zu Zeit, und dann wirrte ich in meinen Antworten Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch durcheinander, und der Schweiß trat mir wiederum auf die Stirn. In solchen Augenblicken begann B.H. sich meiner zu schämen und lugte zeichengebend und einsagend hinter dem abstrakten Kunstwerk hervor. Die andern aber verstanden mich immer oder taten wenigstens so, was ihrer Furcht vor dem Ungemäßen und Unangenehmen zuzuschreiben ist. Freilich hatte dieses Verständnis seine Grenzen, wie es sich bald herausstellen wird.
In einer Pause nach dem dritten Gang wandte ich mich, nur um verlegene Konversation zu machen, an Io-Rasa, die schöne Brautmutter zu meiner linken Hand:
„Man speist in diesem Hause ausgezeichnet. Offen gesagt, ich habe in meinem Leben noch nie so gut gespeist. Freilich, es ist meine erste Mahlzeit in meiner jetzigen, so überraschenden Anwesenheit, denn von dem vorigen Leben will ich ja gar nicht reden. Sie führen eine vortreffliche Küche, Madame.“
B.H.s Kopf fuhr verzweifelt hinter seiner Deckung hervor. Ich hatte wieder eine unverzeihliche Gaffe begangen. Wie konnte man in dieser ästhetischsten aller Welten vom Essen reden, als lungre man in einem nach aufgewärmtem Gulasch stinkenden Bierbeisl? Ich erschrak. Doch die Dame ließ mich nichts fühlen. Sie lächelte bezaubernd mit ihren wunderschönen, vom Lichte ein wenig verwischten Zügen und entledigte sich aufs liebenswürdigste ihrer Pflicht, einen Gründling wie mich mit zarter Unauffälligkeit zu belehren:
„Wir führen keine eigene Küche, Seigneur. Die Rezepte, die sich seit Jahrhunderten im Besitze unserer Familie befinden und die auf keine andere Familie ohne den Stempel des Notars übertragbar sind, werden auf zentralem Wege hergestellt.“
Aha, СКАЧАТЬ