Название: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788726482362
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Wieder Schweigen. Ich öffnete die Augen noch immer nicht:
„Meine Zeit, Messieurs-Dames, war sehr kurz, an der Ihren gemessen. Sie glich in mancher Hinsicht jenen Melodien, die wir von unsern Vorfahren überliefert bekamen, in deren Anfang das Ende und in deren Ende der Anfang beschlossen war, und die, während sie noch abliefen, schon ausgeatmet hatten, weil wir sie als süße Erinnerung in uns trugen: ,Oh terra addio, addio o valle di pianti’. Die Zeit brannte von beiden Enden auf die Mitte zu, und die Mitte war mein unbeschütztes und ausgesetztes Ich. Mit dreißig Jahren versetzte ich mich ins vierzigste, ich der leichtsinnigste, gewissenloseste Sündenlümmel, den ich kenne, mit vierzig ins fünfzigste, immer dachte ich zurück oder vorwärts, nie war’s Gegenwart auf meiner Uhr, und als plötzlich alles um war, hatte es noch kaum begonnen und doch seit jeher gedauert. Verstehn Sie mich? . . .“
Ich öffnete die Augen. Die wunderschöne Ahnfrau näherte sich mir . . . Ich wollte aufspringen. Sie winkte mir mit ihrer Marmorhand, der man die Eiseskälte ansah, sitzen zu bleiben.
„Ich verstehe, Seigneur“, sagte sie in ihrem zynisch schwingenden Kontra-Alt, „daß Sie sich leidenschaftlich ans Leben geklammert haben in den Anfängen der Menschheit . . .“
Darauf ich, die persönliche Wahrheit vermeldend:
„Oft leidenschaftlich ans Leben geklammert, Madame, oft leidenschaftlich aus dem Leben fortgewünscht . . . Ich nehme an, daß man auch heute noch fühlt, was das Erwachen eines Liebenden am Morgen ist, wenn ihm der Verlust einer Geliebten, einer Mutter, eines Kindes mit einem Schlage bewußt wird . . . Das Erwachen eines Verurteilten im Untersuchungsgefängnis . . . Das Erwachen im Schützengraben um vier Uhr morgens vor dem Angriff . . . Wir waren bedroht, immer bedroht vom Verlust und vom extremen Schicksal des Ichs oder des uns verbundenen Dus . . .“
Das ,extreme Schicksalʻ war ein Euphemismus. Ich war schon so weit, daß ich um keinen Preis das nackte Wort ,Todʻ gebraucht hätte. Da sagte der Beständige Gast, der mit dem charakteristischen Barockkopf:
„Nun, das ist bei uns wirklich anders, denn wir gehn den letzten Weg freiwillig und zu Fuß.“
Jetzt stand ich auf und verbeugte mich:
„Nicht ich habe das erklärende Wort gesprochen, sondern Sie, mein Herr. Ja, in der Freiwilligkeit und in der Vorherbestimmung der eliminierenden Wendung liegt der ganze Unterschied. Unsere Nerven waren tagaus, tagein terrorisiert vom vorhergeschen Unvorhergesehenen. Jeder Atemzug unserer Zeit war bedroht. Inzwischen aber hat das Menschengeschlecht seine größte Tat vollbracht. Sie haben die wilde Zeit domestiziert, Messieurs-Dames . . . Sie sind weder von außen noch von innen mehr bedroht.“
„Wir sind bedroht“, sagte Io-Fagòr langsam, nachdem eine schwangere Pause vorübergegangen war. Alle sahen sich bedeutsam an. Die Elfenbeinfarbe ihrer Gesichter schien um einen Schatten bläulicher zu sein.
„Wir sind bedroht, Seigneur“, fuhr der Brautvater mit gedämpfter Stimme fort, „und zwar grausamer und schrecklicher als Sie es jemals waren.“
„Überschätzen Sie den Gegensatz der Generationen nicht“, suchte ich zu beschwichtigen, an die Worte denkend, die er vorhin über die Jugend gesprochen hatte. „In manchen Zeiten verschärft sich die natürliche Intention der Kinder gegen die Eltern. Das ist keine ernste Bedrohung, das ist eine Form der gesunden Entwicklung. Da hatten wir bei uns einen schwer lesbaren Philosophen, Hegel hieß er. Seine Theorie von der geschichtlichen Dialektik ist aber trotz allem ein Gemeinplatz geworden. Die Thesis ruft die Antithesis hervor, das Pendel muß von einer auf die andre Seite schwingen, nur damit die Sache weitergehe.“
„Mit dem Gegensatz von Eltern und Kindern hat es gar nichts zu tun“, versetzte Io-Fagòr und schüttelte seinen goldenen Kopf.
„Sollte etwa eine Naturkatastrophe drohen?“ forschte ich weiter, von ungebührlicher Wißbegier verführt. „Sie werden doch Mittel genug besitzen, sich vor Vereisungen oder Überflutungen zu schützen.“
„Diese Mittel besitzen wir wohl“, nickte der Hausweise, „aber nicht eine solche Katastrophe ist es, die uns schreckt.“
Ich suchte B.H.s Blick. Er wich mir aus.
„Weiß er noch nichts?“ fragte der Hausherr.
„Nein, er weiß noch nichts“, erwiderte B.H.
Das Mahl war zu Ende. Die Runde um das beunruhigend ausdrucksvolle, aber abstrakte Kunstwerk hatte sich aufgelöst, einem Lächeln und leichten Kopfnicken Io-Rasas, der Hausfrau, gehorchend. Die schöngesichtigen und feingestaltigen Männer und Frauen bildeten zwei streng getrennte Gruppen. Das war völlig im englischen Stil und verführte mich zu dem flüchtigen Einfall, die Welt müsse einst vor vielen Jahrzehntausenden durch die Angelsachsen unifiziert und dominiert worden sein, und davon sei diese puritanische Nachtischsitte noch in dieser fernsten Zukunft erhalten geblieben, eine prüde und fast heuchlerische Sitte übrigens, die angesichts der mangelnden oder überwundenen Leidenschaften auch ihren zwingenden Sinn verloren hatte.
Türen öffneten sich lautlos, und man sah in drei oder vier anstoßende Räumlichkeiten, deren jede von einem warmen, aber anders kolorierten Lichte erfüllt war. Die polychrome Beleuchtung schien in der gegenwärtigen Zivilisation wahrhaftig die Rolle der Haute Couture übernommen zu haben, denn während die lieblichen Figuren meiner neuen Mitmenschen mit ihrem schönschwingenden Schritt sich in den verschiedenen Salons verloren, wurden sie von der jeweiligen Lichtquelle jedesmal neu und andersfarbig kostümiert. Hier muß ich in meinen Bericht eine kleine persönliche Anmerkung einschalten. Als Astigmatiker war ich zu Lebzeiten verurteilt gewesen, stets Augengläser zu tragen. Nach meinem Hinscheiden aber schien man mir diese abgenommen zu haben, was einerseits meine Züge gehoben haben mochte, mich aber andererseits jetzt in beständige Verlegenheit brachte und mir meine Aufgabe ziemlich erschwerte, sah ich doch während meines ganzen Aufenthaltes alles recht verschwommen und vielfach nur in Umrissen. Die einfache Lehre, die man aus diesem Umstand ziehen sollte: „Lasset euern Dahingegangenen die Brillen auf der Nase, denn man kann nie wissen . . .“ Da waren die Ägypter und andre Völker aus den Anfängen der Menschheit viel vorsichtiger. Sie gaben ihren Toten eine vollkommene, gebrauchsbereite Ausstattung mit, die selbst die von wohlhabenden Bräuten übertraf. Ach, mir wäre schon mit einem alternativen Hemd, zwei Kragen, zwei Taschentüchern und vor allem meiner Brille gedient gewesen.
Ebensowenig wie von diesem Festmahl irgendwelche äußern Reste übriggeblieben waren, ebensowenig war man sich einer verdauenden Nachwirkung des Genossenen bewußt. Ich empfand weder Sättigung noch unbefriedigten Appetit, sondern nichts als eine leise und wohlige Erwärmtheit. Ja, ja, ich hatte mich nicht mit Materie vollgepampft wie in meinen guten Jahren (das hat auch seine Vorzüge gehabt), sondern mit Substanz, wenn nicht gar nur mit der Idee von Substanz, im winzigen Hohlmaß von dickem Kristall dargereicht. — Wenn es dem Leser bisher nicht selbst aufgefallen ist, so möchte ich sein Augenmerk darauf lenken, daß, wie zur Herstellung dieses Mahles, auch zu seinem Service eine Dienerschaft weder vonnöten war noch auch sich zeigte. Ich empfing das jeweilige Süppchen oder Tränklein im Becher jedesmal aus Io-Rasas Händen persönlich. Wie es dahin und wie die übrigen Becher in die Hände der andern Festgäste gerieten, das kann ich wegen oberwähnter Augenschwäche leider nicht angeben. Mit dem Auftrag einer solchen Berichterstattung sollte das nächstemal ein Verstorbener ohne jedes Gebrechen betraut werden.
Was mich an mir selbst jedoch am meisten erstaunte, war, daß ich kein Bedürfnis nach Tabak oder Alkohol empfand und meine Tasche weder nach einer Zigarettenschachtel abtastete noch auch nach einem Gläschen Kognak umherlugte. СКАЧАТЬ