Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel страница 9

Название: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman

Автор: Franz Werfel

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788726482362

isbn:

СКАЧАТЬ obwohl es doch einige Jahrzehntausende oder Weltepochen vor meiner Besuchszeit stattgefunden hatte, während der tiefsten Tiefe meines Todesschlafes. Es war ein ganz richtiger Instinkt gewesen, der mich darauf bestehen ließ, zuerst in das Ereignis eingeweiht zu werden, bevor ich die Schwelle des Hochzeitshauses überschritt. Daß eine Hochzeit, das Fest der Eheschließung, so viel mehr bedeutete als in meinen Tagen, auch das hing ja mit jener erhabenen Transparenz zusammen. Seitdem unsere Sonne ihren „Anfall“ erlitten hatte, jenen infinitesimalen Augenblick zwischen strahlendem Fortbestand und explosivem Verderben, welcher so leicht unser ganzes Planetensystem hätte in dünnste Urmaterie zurückverwandeln können, seit jenem Augenblick der Augenblicke hatten nämlich auf unserer lieben und leidigen Erde einige Umwälzungen stattgefunden, die nicht unwichtiger waren als das Verschwinden des Vogelgeschlechtes.

      Obwohl der Augenblick der Augenblicke so kurz gewesen, daß B.H. nicht genug Nullen in die Luft schreiben konnte, um seine Kürze darzustellen, so hatte er doch genügt, um den Abstand des Erdglobus vom Sonnengestirn etwas zu vergrößern. Es war eine ganz und gar unwesentliche Vergrößerung, welche die Umlaufszeit der Erde und somit das Jahr um kaum ein oder zwei Stunden verlängerte. Und doch — diese winzige Dehnung drückte sich in der Naturund Menschheitsgeschichte aus, nicht anders wie die leicht erlahmte Achsendrehung der Erde, die in ebenso winzigem Ausmaße die vierundzwanzig Stunden des Tages um ein Häuflein von Sekunden vermehrte. Blutiger Laie, der ich bin, berichte ich diese Veränderungen nur, ohne sie astronomisch und physikalisch beschreiben, begründen und rechtfertigen zu können. Es wird Sache der Gelehrten sein, diese von mir heimgebrachten Fakten zu prüfen.

      Der skeptischeste Gelehrte jedoch wird die Wahrscheinlichkeit nicht ausschließen, daß auch geringe kosmisch-astronomische Veränderungen nicht ohne biologische Folgen bleiben können. Mit der wichtigsten dieser Konsequenzen, soweit sie die Krone der Schöpfung anbetrifft, platze ich ganz ungehöriger Weise sofort heraus. Es war dies eine sehr beträchtliche Erhöhung des menschlichen Lebensalters. Ob diese freilich einzig der Verlängerung und Verlangsamung des planetaren Rhythmus zu danken war, oder ob eine kunstvolle Verminderung jener Gefahren und Schädigungen mitspielte, wie sie den hinfälligen Körper des Menschenkindes meiner Zeit bedrohten, auch dies ist eine der Fragen, mit denen ich die Schultern der Gelehrten belasten muß. Es ist eine gewisse furchtsame Verlegenheit, die mich zwingt, die Frist an der Gartenpforte der astromentalen Epoche ein wenig hinauszuziehen. Sind wir einmal eingetreten, so wird es unsere schwierige Aufgabe sein, mit einer erdrückenden Fülle grandiosen Fortschritts fertig zu werden, der ganz und gar nichts mit technischen Verbesserungen und Erleichterungen zu tun hat, welche wir in den Anfängen der Menschheit beinahe ausschließlich mit „Fortschritt“ identifizierten. Dieses Wort, naiv und schnurgerade verwendet, umschließt, was inzwischen auch schon den Minderklugen bekannt ward, eine arge Illusion. Andererseits bleibt aber vom Bienenfleiße der wechselnden Generationen so mancher Honigtropfen der Erfahrung in den Waben zurück, den selbst Sonnen- und Erdkatastrophen sowie der partielle Gedächtnisverlust der Menschheit nicht völlig vergeuden können. Jede gehende Uhr, die dem Menschen die Stunde schlägt, ist eine Sparbüchse, in welcher die sich sammelnden Sekunden nicht ganz zinsenlos hinwegschmelzen. Die Zeit an sich thesauriert für das Menschengeschlecht, das sie erlebt und erleidet, ein gewisses Kapital, das allerdings, wie durch den letzten Willen eines weitsichtig geizigen Erblassers, nur als winzige Rente in großen Abständen behoben werden kann. So ist denn jede Generation ein klein wenig reicher als die ihr vorangehende, und sei sie auch nur reicher um deren Niederlagen. Dieses mikroskopisch geringe Plus an sich mehrendem Älterwerden ist der ganze „Fortschritt“ der Menschheit.

      Ich widerrufe die obige Erkenntnis nicht, obwohl ich am zweiten Tage meines Besuches aus dem Munde des Großbischofs eine ganz und gar gegenteilige Lehre zu hören bekam. Die Wahrheit ist ein und dieselbe. Die Sichtwinkel sind verschieden. Das Lebensalter der Menschen, in deren Kreis ich sogleich treten soll — wir stehen zur Beruhigung des Lesers schon jenseits der Gartenpforte ―, konnte ohne große Schwierigkeit bis zum zweihundertsten Jahre ausgedehnt werden. Die meisten Leute jedoch pflegten schon zwanzig oder dreißig Jahre früher „in Pension zu gehen“, obgleich ihnen das Alter keine Beschwerden brachte, sondern schlimmstenfalls eine gewisse Gelangweiltheit und Sättigung. Hier aber nähere ich mich bereits voreilig der zweitwichtigsten, wenn nicht der wichtigsten Erfahrung meiner Reise, und es wäre vom Standpunkte des Berichterstatters sowie des Romanschreibers mehr als ungeschickt, diese Erfahrung zusamt der Bedeutung des Wortes „Wintergarten“ (ein heuchlerischer Ausdruck) vor dem zweiundzwanzigsten Kapitel im dritten Teil dieses Buches preiszugeben. Die allgemeine Verlängerung und Verlangsamung des Lebens hatte noch andere Besonderheiten nach sich gezogen, die ich zum Teil erriet, zum Teil aus dem Munde B.H.s erfuhr (so scheint es mir wenigstens jetzt), noch ehe ich mit den Menschen in Berührung kam, die mich zur Hochzeitsfeier eingeladen oder richtiger „zitiert“ hatten. Die Verarmung des Lebens an Buntheit und Fülle, die erstaunliche Verringerung seiner Varietäten, die Abnahme seiner Leidenschaften, all dies zu erraten, dazu gehörte wahrhaftig nicht viel Scharfsinn. Ein Blick weit hinaus auf die glatte Trostlosigkeit des Erdenbildes bewies alles. Wir waren bisher noch keinem einzigen Menschen begegnet. Ich zog daraus, wie mir mein Freund bestätigte, keinen falschen Schluß: Die ehemalige Milliardenzahl gleichzeitig lebender Individuen war auf jenes Minimum zusammengeschrumpft oder zurückgeführt, welches für den Fortbestand einer Spezies unumgänglich notwendig ist. Auch das nächste Glied der Schlußkette ergab sich mit Notwendigkeit: Bei solch dünner Bevölkerung des eingeebneten Erdballs, die durch das Reise-Geduldspiel auf das schwereloseste verbunden war, konnten nationale und sprachliche Unterschiede nicht bestehen. Seit undenklichen Epochen war die Menschheit geeinigt.

      Gewiß, B.H. hatte den Ehrgeiz, mich in Erstaunen zu setzen. Zugleich aber wollte er nicht, daß ich mich blamiere und als ein völlig Unwissender und Ungebildeter meinen neuen Zeitgenossen erscheine. Dem hatte ich es zu verdanken, daß ich rasch einige Aufklärungen darüber erhielt, was eine Hochzeit in der mentalen Welt bedeutete, und warum es eine hohe gesellschaftliche Ehre war, diesem Feste zugezogen zu werden.

      Das Gebiet, auf dem sich der durch die „Transparenz“ hervorgerufene Wandel am schärfsten spiegelte, war, wie nicht anders zu erwarten, das Gebiet der Fortpflanzung: Paarung, Zeugung, Empfängnis, Schwangerschaft, werdendes und hervortretendes Leben. Es seinicht wahr, gestand B.H., daß alle Frauen nur einer einzigen Schwangerschaft im Leben fähig wären. Dies stimmte nur für die adeligste und verfeinertste Klasse unter ihnen. Gleich den edlen Bäumen im Märchen war es ihnen gegeben, nur einmal Frucht zu tragen. Hingegen war die Verfeinerung der Natur allgemein, die in dem Umstand lag, daß die Dauer der Gravidität sich von neun auf beinahe zwölf Monate erhöht hatte.

      War die Monopädie, das Einkindsystem, auch die Regel, so waren, wie B.H. mit bedenklicher Miene erklärte, die Ausnahmen zahlreicher als diese Regel. Wie hoch sich freilich die Verhältniszahl jener Ehepaare belief, die zwei oder drei Kinder großzogen, das konnte ich während meiner ganzen Anwesenheit nicht erforschen. Jenes statistische Bedürfnis, das mein eigenes Zeitalter gekennzeichnet hatte, schien der mentalen Epoche völlig abhanden gekommen zu sein. Eines aber wurde mir schon jetzt aus den Andeutungen des Wiedergeborenen klar: Von „Familie“ konnte derjenige nicht sein, welcher zu einer „kinderreichen“ Familie gehörte, die zwei Sprößlinge daheim zu hüten hatte. Die kinderreichen Familien bildeten somit die „untere Klasse der Gesellschaft“, obwohl dieses Wort „untere Klasse“ recht sinnlos klang für eine Welt, von der B.H. im selben Atemzuge behauptete, sie kenne keine ökonomischen noch sozialen Unterschiede. Immerhin verschwieg er mir nicht, daß sich das monopädische Patriziat mit den „Kinderreichen“ nicht vermische.

      Ich hatte rasch kapiert, welche hohe Bedeutung der Ehe in dieser Welt innewohnen mußte. Sie schien sich beinahe zur Höhe der sakramentalen Heiligkeit zu erheben, wie sie die katholische Kirche lehrte, die eine von den zwei Erscheinungen aus den Anfängen war, denen ich hier begegnen sollte. (Die zweite wird zur rechten Zeit verraten werden.) Was die Vereinigung von Mann und Weib betraf, so blieb viel weniger der freien Liebeswahl überlassen als in dem liberalen Zeitalter meines früheren Lebens. Wieder einmal berührten sich die äußersten Gegensätze, indem die Mentalen dieser fernsten Zukunft in dieser Hinsicht es nicht anders hielten als die mythischen Bauern des verschollensten СКАЧАТЬ