Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel страница 11

Название: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman

Автор: Franz Werfel

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788726482362

isbn:

СКАЧАТЬ Gärten war somit ein Dachgarten. Die einzelnen Baumhaufen bezeichneten je ein Wohnhaus. Nichts widersprach mehr der technischen Architektur von Beton, Stahl und Glas, jener Industriearchitektur aus meiner Zeit, aus den Anfängen der Menschheit, welche schreiendes Licht und grellen Lärm kraftmeierisch in die nervenlosen Hauskuben zu zerren liebte, als diese Bausitte hier, die im Schoße der Erde dem überempfindlichen Menschen das schützende Heim errichtete. Die Erdoberfläche überragte nur ein mäßig hoher, runder Überbau aus durchscheinendem Material, der dem Geschütz- oder Beobachtungsturm eines Kriegsschiffes glich. In diesen Turm traten wir durch einen türlos offenen Eingang, worauf sich sofort die Plattform, auf der wir standen, zu senken begann. Ich bekam in diesem Augenblick, was mir niemand verdenken wird, tüchtiges Herzklopfen und war deshalb ziemlich froh, als, in der Tiefe angekommen, B.H. mich zu warten bat, denn er müsse mein Erscheinen anmelden.

      Als ich mich dann im Empfangszimmer befand, ich weiß nicht, ob hereingerufen oder -geholt, da war ich wieder ganz ruhig und fühlte mich von der unbeteiligten Beobachtungskraft und unerschrockenen Neugier eines echten Forschungsreisenden erfüllt, obwohl mir dieser Zweck meiner nächtlichen Aussendung so recht erst nach meiner Rückkehr bewußt wurde. Meine Aufgabe freilich war nicht so leicht, wie man denken könnte. Ich hätte zum Beispiel, was doch jedem Forschungsreisenden zweifellos obliegt, keinerlei stenographische Anmerkungen in ein Notizbüchlein machen können, aus Gründen des eigenartigen Lichtes nämlich, das den mittelgroßen und wohlgestalten Raum erfüllte. Dieses Licht oder besser, diese Beleuchtung war nicht etwa schwach oder düster, sie war ganz im Gegenteil von wohltuend milder Helligkeit, aber durch irgendeine unbekannte Zumischung gelang es ihr, alles, was sie erleuchtete, zugleich zu verwischen, angenehm ungenau zu machen und in eine schöne Ferne zu rücken. Wenn das Wort aristokratisch auf eine Beleuchtung angewendet werden darf, so war’s die aristokratischste Beleuchtung, die sich denken läßt. Ich sage mit Absicht nicht ästhetisch, sondern aristokratisch, weil sie den Gegenständen Takt und Liebenswürdigkeit angedeihen ließ. Ziemlich warm, ins Gelb-Trauliche spielend, erinnerte sie an das Auer-Gaslicht meiner Kinderzeit und seinen friedlichen Lampenkreis. Von dieser so häuslichen Beleuchtung umspült, standen etwa elf Personen um einen sonderbar hohen, mittelgroßen Tisch, der auf mich den Eindruck eines ertappten Wesens machte, das sich totstellte. Die Personen lächelten hochbefriedigt in die Richtung, wo ich mich aufhielt. Sie hatten sich weder bei den Händen angefaßt noch auch den Raum verdunkelt, wie es die Praxis eines verschollenen Altertums vorschrieb. Dergleichen Hokuspokus schien längst überwunden zu sein. Außerhalb des freundlichen Lichtkreises, genau in der Mitte zwischen jenen Personen und mir, stand B.H., der Wiedergeborene. Obgleich sein Gesicht ganz in Schatten getaucht war, erinnerte es mich, ich weiß nicht warum, an das Gesicht eines Conferenciers oder eines Artisten oder des Erklärers bei einer Abnormitätenschau, der soeben einen schlagkräftigen Satz gesprochen hat. Mit einer Hand wies B.H. auf mich („voilà“), mit der andern auf die Gesellschaft. Es war von nun an seine symbolische Gebärde. Die Personen dort, die aufmerksam, offen und erwartungsvoll mich ansahen, waren mit nichts anderem bekleidet als mit dem zarten Spitzengewebe, welches dieses Licht ohne Lichtquelle über sie warf. Einfacher gesagt: Sie waren nackt.

      Ich hingegen war nicht mehr nackt, geschweige denn nackter als nackt, unsichtbar. Ich war sogar äußerst sichtbar, mir selbst zur plumpen Unlust. Um das Maß vollzumachen, trug ich, horribile dictu, meinen Frack mit steifer, zudem noch eingeknickter Hemdbrust, samt ramponiertem Stehkragen und müder weißer Binde. In diesem Staatsgewand hatte man mich vermutlich vor mehr als hunderttausend Jahren zu Grabe getragen, und damals schon war dieser Frack, ich will nicht übertreiben, aber er war beinahe zwanzig Jahre alt. Neben seinem schäbigen Seidenrevers bammelte der einzige Orden, den ich im Leben empfangen habe, und zwar von einer kunstfreundlichen, aber schwachen Regierung, die drei Wochen nach dieser unbedachten Ordensverleihung vom Teufel geholt wurde. Welch ein Rollentausch! Ich, der als Astralleib, als ekdoplastische Erscheinung hierher zitiert worden war, kam mir vor wie der feiste Oberkellner eines mittelmäßigen Restaurants unter leuchtenden Geistern. Diese aber empfingen mich mit großen, erfolgsfrohen Augen, denn mein ausgedienter Frack erschien ihnen zweifellos als ein phantastisches Kostüm aus der Maskenleihanstalt menschlicher Urgeschichte, viel phantastischer gewiß als mir etwa ein Ritter in Turnierrüstung und Helmbusch zu meiner Zeit erschienen wäre.

      Es ist eine alte Erfahrung für jedermann, der in einen Kreis von Menschen sehr fremder Rasse tritt, daß die Gesichter dieser Menschen einander quälend gleichen und er die größte Mühe hat, sie auseinanderzuhalten. Meist hilft er sich damit, daß er die Unterscheidungsmerkmale im verschiedenartigen Körperwuchs und in der Gewandung sucht. Beides war mir unmöglich. Die Persönlichkeiten um diesen Tisch schienen alle von gleichem Körperwuchs zu sein, von zierlicher, ja man möchte fast sagen lieblicher Gestalt, Männer und Frauen. Ihre harmonische Mittelgröße widerlegte die übliche Vorstellung vom riesenhaften, willensgestählten Zukunftsmenschen, die auch ich zu meiner Zeit gehegt hatte. Ebensowenig wie der Wuchs kam mir die Kleidung zu unterscheidender Hilfe. Wenn die Persönlichkeiten hier das eigenartige Licht auch wie ein leichtes, kommodes Hausgewand um den Körper trugen, so verwischte es eher jede Verschiedenheit als sie zu verraten. Von allem Anfang an fühlte ich, daß die Nacktheit der anwesenden Gestalten in keiner Weise mit dem zu vergleichen war, was in meiner Epoche der Schönheitsköniginnen am Badestrand und auf dem Sportplatz als Nacktheit oder Halbnacktheit umzugehen pflegte. Dies ist ja nicht eigentlich Nacktheit gewesen, sondern nur Ausgezogenheit und Enthülltheit dessen, was gewohnheitsmäßig verhüllt war. Diese Nacktheit hier hingegen schien als nackt gedacht zu sein, sie stand nicht im Widerspruch zu sich selbst, sie konnte als traditionelle Lebensregel im Hause gelten, sie hatte nicht den heimlichen Wunsch, Blicke auf sich zu ziehn und Begierden zu erwecken, sie war unschuldig. Wäre ich ein schwärmerischer Sektierer, so würde ich vielleicht von der wiedergewonnenen paradiesischen Nacktheit sprechen können. Schon die nachgedunkelte Elfenbeinfarbe dieser „mentalen“ Körper, fern von allem Milch und Blut, offenbarte und verbreitete eine Sinnenkühle, die sich kaum beschreiben läßt.

      Die Schönheit der zartgliedrigen und feingesichtigen Persönlichkeiten in dem Raum besaß aber die berauschende Eigentümlichkeit nicht, die wir mit der Wortverbindung „strahlende Schönheit“ beschreiben, jene unentrinnbare Macht, welche den atemlosen Blick an sich reißt und dürsten läßt, indem sie ihn erquickt. Niemand hier war strahlend schön; man war streng schön oder mild schön oder durchsichtig schön. Da aber alle schön waren und somit der Vergleich, dieser Ursprung jeder Wertordnung, meinen Augen fehlte, so gewöhnten sie sich recht geschwind an all die unbekannte Schönheit. Dazu kam noch die ewige Jugend, oder genauer, die Alterslosigkeit, eine hohe Errungenschaft der vergangenen Zeitalter. Zuerst glaubte ich, in jedem der hier anwesenden Paare das junge Brautpaar, Io-Do und Io-La, entdecken zu müssen. Bald aber wurde ich belehrt, daß Sitte und Brauch, Zeremoniell und geheime Hygiene es den Hochzeitern verboten, sich vor ihrer Vereinigung ohne weiteres unter die Hochzeitsgäste zu mischen, die das Haus belebten. Sie lagen, nahe und doch getrennt, ein jedes auf dem Ruhebett seines Appartements, der Betrachtung, der Träumerei und pfleglicher Fürsorge hingegeben. Die Männer und Frauen, in denen ich die jungen Verlobten gesucht hatte, waren die Eltern und die Großeltern der Braut, und so auch die Eltern und Großeltern der Gegenseite. Die Großeltern schienen um kein Fältchen älter zu sein als die Eltern, und letztere wiederum — ich wüßte nichts Jugendfrischeres zu nennen als diese munteren Eltern. Wenn es einen Altersunterschied gab, so lag er einzig im Blick und in der Einbettung der Augen. Aber um diesen Unterschied zu erspähen, dazu gehörte schon ein längerer Umgang mit dieser Gegenwart, die, während ich dies niederschreibe, wieder zur fernsten Zukunft geworden ist.

      Halt! Als ungeübter Berichterstatter hätte ich über der Zergliederung meiner eigenen Eindrücke einen äußerlich wichtigen Umstand beinahe zu reportieren vergessen. Es gab einen Unterschied, und einen sehr auffälligen dazu. Die hier versammelten, zart gestalteten Persönlichkeiten trugen Perücken. Innerhalb des vergangenen Jahrhunderttausends mochte es der Lauf der Natur so gefügt haben, daß den Menschen die Haare ausgegangen waren. Niemand wird behaupten, daß diese geringfügige biologische Veränderung auch nur annähernd mit dem Abgrund sich vergleichen läßt, der zwischen dem Neandertaler Höhlenmenschen und etwa einem Dante Gabriel Rossetti klafft. (Auch jenem mußten ja die Haare aus dem Pelz fallen, ehe er zu diesem wurde.) Den Zeitgenossen СКАЧАТЬ