Und da stand ich nun in meinem schäbigen Begräbnisfrack, den Orden eines heimatlich trauten Ländchens an der Brust, das schon zu meinen Lebzeiten bis auf weiteres aufgelassen worden war. Im übrigen hatte meine Erscheinungsform von der ursprünglichen Unsichtbarkeit alle möglichen Stufen der Verdichtung durchlaufen, so daß von Ekdoplasma oder Astralleib nicht mehr die Rede sein konnte. Ich war geistig und leiblich so vollzählig „Ich-Selbst“ geworden, daß ich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, vor Erregung schwitzte. Ich erkannte mich selbst, wenn ich in mich hineinhorchte oder mich mit den Fingern betastete. Meine Zunge stieß wieder an den Goldzahn links oben in der Ecke. Ich merkte, daß B.H. vor Verlegenheit schon grimassierte. Zaghaft — was blieb mir anderes übrig — näherte ich mich also dieser Gesellschaft, die so viel Kulturentwicklung und feine Manier mir voraushatte, um ihr gewünschtermaßen zu „erscheinen“, ein Beinahe-Höhlenmensch in schlechter Kondition, nämlich rundlich, schwitzend und steifbehemdet. Alle lächelten erfreut, als die Stimme meines Schulkameraden B.H. erscholl, unter der zeremoniellen Heiterkeit den Triumph nicht verhehlend:
„Ich erlaube mir, den Herrschaften unsern werten Gast F.W. aus den Anfängen der Menschheit gebührend vorzustellen.“
Nach diesen Worten wandte sich zu mir und verbeugte sich der älteste Mann der Versammlung, welcher Superlativ nichts besagen will, da er hätte auch der jüngste sein können. Während der sich nun entwickelnden geselligen Zusammenkunft lernte ich in ihm den sogenannten „Wortführer“ kennen. In mittleren Menagen, so erfuhr ich später von B.H., war der „Wortführer“ und der „Hausweise“ ein und dieselbe Person. In diesem bedeutenden Hause hier aber gab es neben dem Wortführer und dem Hausweisen auch noch eine Figur, die der „Beständige Gast“ gerufen wurde. Diese männlichen Chargen wurden dem Arsenal der Junggesellenschaft entnommen, das sich aus Gründen der schon erwähnten Ehestrenge überall gebildet hatte. Die Junggesellen „lebten mit“, wodurch ein soziales Problem auf glatte Art gelöst war.
„Seien Sie uns willkommen in dieser bescheidenen Gegenwart, Seigneur“, begrüßte mich der Wortführer. Er ließ diese barocke Vokabel, „Seigneur“, auf der Zunge zerrinnen. Man schien sich auf „Seigneur“ geeinigt zu haben, um mir nicht nur Ehre zu geben, sondern auch eine trauliche Brücke der Anrede zu bauen zu meinem eigenen Zeitalter hinüber, eine Anrede, die meinen Ohren schmeicheln sollte. Der Gute stellte sich aus der Entfernung eines ganzen Jahrhunderttausends vor, daß die Leute in den Anfängen der Menschheit, das heißt ungefähr vom Neandertaler über Nebukadnezar bis zu Mussolini mit den „Seigneurs“ nur so um sich geworfen hätten. Er genoß jedenfalls den Stolz des Altphilologen, der endlich Gelegenheit findet, eine überaus tote Sprache, sagen wir, das Sumerische, im praktischen Dialog mit einem Alt-Sumerer leichthin anzuwenden.
Ich habe übrigens durchaus keinen Grund, mich über diesen schönen Ältesten und Wortführer lustig zu machen, denn flugs unterlief mir ein peinlicher faux pas. Ich näherte mich nämlich diesem Ältesten und reichte ihm mit einem ungenauen Dankgestammel die Hand. Nun aber war die Sitte des Händedrucks schon seit Äonen in Vergessenheit geraten, worüber mich B.H. hätte unbedingt belehren sollen, als ich ihm bei unserer Wiederbegegnung selbst die Hand zu reichen versuchte. Schlimmer als das, körperliche Berührung war in diesem hochsensiblen Zeitalter verpönt, so wie Haar verpönt war. Es entstand also eine kleine erschrockene Verwirrung, als hätte der leichtsinnigerweise heraufbeschworene Urmensch in seiner ungeschlachten Wesensart den Besuch mit einem Mißton eröffnet, dem Kreischen eines Kreidegriffels auf einer Schiefertafel gleich. Das Zehntel einer Sekunde lang schienen alle die Augen zuzupressen. Sofort aber geschah alles, um diesen Verstoß zu vertuschen und ihn vergessen zu machen. Besonders die Damen lächelten aufmunternd durch das Licht hindurch, das ihre lieblichen Gesichter und Gestalten verwischte. Eine der Damen fragte mich, und es war eine Verlegenheitsfrage wie aus den Anfängen der Menschheit:
„Ist das Ihre erste Reise nach California?“
„Nein, Madame“, antwortete ich wahrheitsgemäß, und vor seelischer Anstrengung immer mehr schwitzend. „Ich habe hier vor längerer Zeit ein paar Jahre gelebt.“
„Oh, als Cowboy oder als Goldgräber?“ forschte sie schelmisch und gleichgültig zugleich, wobei sie mit einem eitlen Nachdruck ihr prähistorisches Wissen entblößte.
„Nein, Madame“, sagte ich, „weder als Cowboy noch als Goldgräber, und nicht einmal beim Film, sondern einfach nur als Emigrant . . .“
Ich suchte in den Hosentaschen meines Fracks nach einem Sacktuch und fand endlich eines, das nicht mehr rein war, weil ich es damals vergessen hatte, in die Wäsche zu geben. Ich ballte das Taschentuch in meiner Hand zusammen, damit man es nicht genau sehe, und begann verlegen meine Stirn zu wischen. Dabei ärgerte ich mich, daß die Dame, die einer solchen sonderbaren Erscheinung gewürdigt war, sich weit weniger erregt zeigte, als diese Erscheinung sich selbst fühlte. Sie setzte das Gespräch mit der teilnahmslosen Glätte und Geschicklichkeit einer konversierenden Großherzogin oder Milliardärin fort:
„Finden Sie unser California verändert, Seigneur?“
„Einigermaßen wohl“, hauchte ich, „aber ich will nicht zu schnell urteilen.“
Während dieser kleinen und so unbedeutenden Szene erkannte ich mit all meinen Nerven, daß dieser Leute tiefstes Bestreben dahin ging, jeder Peinlichkeit, jedem Konflikt, jeder Anstrengung, jeder Auseinandersetzung, jeder Entscheidung, jeder ernsten Mühsal aus dem Wege zu gehn. Diese Menschheit hier hatte im Gegensatz zu der unsrigen von damals im Laufe unzähliger Generationen eine Ordnung geschaffen, eine Art und Weise des Lebens, in der alle Widerstände gegen das Schöne, Gefällige, Angenehme, Schmeichelnde gebrochen zu sein schienen. Die Öde draußen und oben, jenseits ihres Hauses, ihres traulichen Lichtes, fühlten sie nicht. Sie wußten nichts mehr von grünen Bäumen und grünem Gras. Ihr Gras war eisengrau. Dabei konnte ich noch gar nicht wissen, wie sehr sie um ihre holde Konvention des Angenehmen und Bequemen bangten, die sie nicht billig, sondern durch schwere Resignationen erkauft hatten, wie es das Rezept jeder Kultur fordert.
Hilfesuchend sah ich mich nach B.H. um.
Eine Flügeltür öffnete sich.
FÜNFTES KAPITEL
Worin ich an einem Festmahl teilnehme, von einem Hund angesprochen werde und mich ahnungslos einem heiklen Thema nähere.
WIR GINGEN durch die Flügeltür in ein von etwas klarerem Lichte erfülltes Nebengemach, nicht anders, als in der Vorzeit eine Gesellschaft es tat, wenn sie zu Tisch gerufen wurde. Erstaunlicherweise war das Zimmer mit dem großen Familientisch nicht das Eßzimmer, sondern dieses hier, das weder Tisch noch irgendeine Sitzgelegenheit besaß. In der Mitte des Raumes erhob sich, von einem runden und niedrigen Gitter umgeben, aus einer flachen Vertiefung eine rötlich schimmernde Skulptur. Es war ein abstraktes Kunstwerk, das kein СКАЧАТЬ