Название: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788726482362
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„So wenig ich auch noch mit meinen eigenen Augen in Ihrer Welt gesehn habe“, begann ich, „so sehr kann ich doch bereits das Ungeheure beurteilen, das Sie in der Wohleinrichtung des Lebens geleistet haben. Es ist Ihnen gelungen, die menschliche Lebensdauer rund zu verdreifachen, und viel mehr als dies, es ist Ihnen gelungen, diesem Leben den häßlichen Verfall des Alters fernzuhalten. Einem Traum, der so alt ist wie der Mensch selbst, haben Sie, dem Augenschein nach, zur Erfüllung verholfen. Der Jungbrunnen der frühesten Sagen und Märchen ist Wirklichkeit geworden. Sie alle sind ewig jung und ewig schön wie die Götter Griechenlands. Ich erwähne diese Götter eigens, weil es mich so heimisch anmutet, daß Sie in Ihre Sprache griechische Wörter mischen. Aber vielleicht wissen Sie nichts mehr von dem Ursprung dieser Wörter. Sie haben ferner das Problem gelöst, das uns zu meiner Zeit am tiefsten niederdrückte. Die Arbeit ist kein Fluch mehr, den eine Welt von Sklaven zugunsten einiger Nutznießer oder Regierer trägt. Sie haben aber mit diesem Fluch zugleich den Fluch der Technik abgeschafft, der die Sklaven und Nutznießer insgleichen um ihre Seele brachte, indem er sie mit Massenwaren, Massengenüssen, Massenkünsten, Massennichtigkeit und Massenmord überschwemmte. Es geht in Ihrer Welt alles so unfaßbar leicht zu. Ein köstliches Festmahl, aus den konzentriertesten Substanzen bestehend, gewissermaßen das Rosenöl der Nährfreude, es wird zentral hergestellt, doch auf Grund höchst persönlicher und seit Jahrhunderten patrizisch vererbter Rezepte. Sie reisen auf mentalem Wege, indem Sie das Ziel mittels eines Spielzeugs auf sich zu bewegen, was nicht die geringsten Kosten verursacht und keinen Dampf, kein Öl, keine Elektrizität oder sonstigen Kraftverbrauch in Anspruch nimmt. Sie haben den Globus unifiziert. Es gibt keine Rassen und Nationen mehr, sondern nur eine einzige Menschheit. Es gibt auch keine Sprachen mehr, sondern nur eine einzige Sprache, die Monolingua, kein künstliches Esperanto, sondern eine organische Sprache des Wohllauts, und ich muß Sie um Nachsicht wegen des barbarischen Akzentes bitten, den meine schwere Zunge aus der Vorzeit mitschleppt. Es gibt auch nicht mehr den ursprünglichen Unterschied zwischen Stadt und Land, den Unterschied zwischen der landschaftlich erhabenen Einöde, in der einst der unbelehrte Ackerbauer oder Bergbewohner sein hartes Leben fristete und der dicht gedrängten Großstadt, der lasterhaften und infektiösen Megalopolis, wo die proletarisierten Millionen keinen Raum und keine Zeit hatten. Sie haben, die gesellschaftliche Bestimmung der Menschheit vollendend, die Erde umgeschaffen zur All-stadt, zur Panopolis — verzeihen Sie einem alten Humanisten die klassische Wortbildung — Pan und Panis, zur All-stadt und zur Brotstadt, denn jedermann bekommt das zur Ernährung Notwendige in der Form des leichtesten, des raffiniertesten, des familiärsten Genusses ins Haus geliefert, und zwar ohne eitel großmächtige Technik, ohne Röhrenleitungen und hydraulische Vorrichtungen, an die nur zu denken bereits den Appetit verdürbe. Ich gestehe, zu meiner Zeit hätte ich nicht geglaubt, daß dies alles je würde erreicht werden können . . .“
Das Mahl schien zu Ende zu sein. Ich hatte das süß und eiskaltcremige Tränklein zu schnell hinuntergeschlürft und fühlte einen sonderbar Ich-bekräftigenden Schwips, dem es zuzuschreiben war, daß ich ohne alle Schüchternheit so viel redete, was vermutlich meiner Erscheinung gar nicht gut anstand. Io-Fagòr — sein Kopfputz war noch immer von Gold — hielt während meiner Rede das Haupt gesenkt. Er schien nicht ganz einverstanden zu sein. Darum vielleicht wollte der Wortführer jetzt vom Gegenstande ablenken:
„Sie haben soeben, Seigneur“, sagte er, „aufs gefälligste das Lob des heutigen Tages gesungen, und die Zufriedenheit eines verständnisvollen und wohlwollenden Gastes erfreut die Wirte immer . . . Wir möchten die Kräfte unsres wohlwollenden und verständnisvollen Gastes nicht allzusehr in Anspruch nehmen, zumal er eine so weite Reise zurückgelegt hat, um uns einen hoffentlich langen Besuch abzustatten. Aber vielleicht könnten Sie, Seigneur, in einigen erklärenden Merkworten, in einer netten Causerie uns Kunde geben von sich und von dem, was Ihnen denkwürdig, im Gegensatz zu unserem Leben, an jenem Leben scheint, das Sie vor geraumen Epochen verlassen haben . . .“
„Aber das würde doch zu weit führen, Monsieur“, sagte ich erschrocken.
„Schildern Sie nichts Allgemeines in ihrer netten, kleinen Causerie, Seigneur“, beruhigte mich der Wortführer, „sondern bleiben Sie persönlich, rein persönlich . . .“
Dieses Wort „persönlich, rein persönlich“ klang in meinen Ohren mild hypnotisch nach. Ich fühlte recht undeutlich, wie mir ein hart gepolsterter Streckstuhl untergeschoben wurde, auf den ich mich mit gelösten Muskeln müde fallen ließ. Die Herren und Damen umgaben mich in einem nahen, angenehmen Kreis. Ich sah erstaunt und mit übersichtiger Verschwommenheit die irisierenden Kopfaufsätze von Gold und Silber, die keusch verwischte Fleischfarbe der nackten Körper unter den durchsichtigen Schleiern. Mein Blick suchte B.H. Er lächelte und schien ganz zufrieden mit mir zu sein. Da schloß ich die Augen. Sofort verschwand die Gegenwart einer fremden Zukunftswelt und machte Platz der Vergangenheit einer heimatlichen Gegenwartsweit, die gleichsam mit dem Augenblick meines Todes stehengeblieben war wie eine Uhr. Von jener, der gegenwärtigen Zukunftswelt, hatte ich vorhin mit einiger Eloquenz schmeichlerisch schwärmen können, über diese, die vergangene Gegenwartsweit, wie gewünscht nett zu causieren, gelang mir keineswegs. Gewiß enttäuschte ich den kühlen und leicht beschwingten Geist des Wortführers, der jedes Problem in Causerie einzuwickeln gewöhnt war, da ja im Plaudern sein Hausamt bestand. Es waren aber auch keine schlagenden Aphorismen, keine erklärenden Merkworte, die ich zustande brachte, sondern vage Umschweife, Gleichnisse und Beispiele. Ich war eben nur ein Urmensch . . . „Ich stelle mir jetzt vor, Messieurs-Dames“, sagte ich, ohne die Augen zu öffnen, „daß ich zwölf Jahre alt bin . . . Es ist Mitte Juli, das Schuljahr zu Ende, vorigen Samstag wurden die Zeugnisse verteilt, wir sind aufs Land gefahren, die Eltern mit uns Kindern . . . Zehn Wochen Sommerferien liegen vor mir, eine Unendlichkeit von Faulheit, Neugier, Körperlust und Seelenglück: Schwimmen im See, Segeln, wildes Spiel mit den andern Buben, Kroquet-Turnier, Wagenfahrten, Ausflüge, Bergbesteigungen, Picknicks, ungewöhnliche Mahlzeiten in kleinen Wirtshäusern, Sommerfeste, Coriandolischlachten, Feuerwerk, Illuminationen, Rasten auf weiten Almwiesen, Schlaf an Waldrändern, die nach Zyklamen duften und nach dem würzigen Koniferenboden unzähliger gestorbener Herbste. Ah, wieviele Abenteuer fühl ich auf mich warten, Abenteuer . . . Es ist noch immer der fünfzehnte Juli . . . Meine Herrschaften, warum fällt plötzlich während einer Minute dieses unerschöpflich langen Gnadentags dem Zwölfjährigen ein, daß an demselben Fensterchen, an dem er steht und auf die ewigen, schattenwerfenden Berge starrt, es einmal nicht mehr der fünfzehnte Juli sein wird, sondern der fünfzehnte September und alle die Abenteuer des Glücks und der Pflichtlosigkeit, die jetzt vor ihm liegen, hinter ihm liegen werden, und wie ist das geschehn, im selben Augenblick ist der fünfzehnte September auch wirklich da . . . Verstehn Sie mich, verstehn Sie mich?“
Ich wußte nicht, ob sie mich verstanden. Keine Antwort zerriß die Nacht vor meinen geschlossenen Augen. Da versuchte ich, es an einem andern Beispiel zu erklären:
„Wir hatten in unserer Welt eine prächtige Einrichtung, Oper hieß sie. Sie werden darüber wohl nichts mehr vernommen haben . . . Oper . . . Bitte hilf mir, B.H.!“
„Sympaian“, sagte B.H., verdolmetschend.
„Sympaian“, wiederholte der Chor einiger Stimmen, durch den bekräftigenden Klang andeutend, daß ihm die Sache durchaus nicht unbekannt sei.
„Sympaian oder Oper, gleichviel“, hörte ich mich hinter schwarzen Schleiern sagen. „Ich war mehr als ein Enthusiast, ich war ein Opernfanatiker. Die Arie ,Celeste Aida’ des Tenors ist gesungen. Jetzt wird die breite Melodie der Amneris eintreten ,Quale insolita gioiaʻ, dann das atemlose ,Forse lʻarcano amore scopri chè m’arde in core’, damit sich schließlich auf der schaukelnden und verschobenen Stütze eines synkopierten Hornstoßes und eines kleinen, leisen Paukenwirbels das sinnbetörende, ja schwindelerregende Terzett entwickele, das gekrönt ist von dem schmerzlich stolzen Sangesbogen des Soprans: ,Ah no, sulla mia patria non geme il cor.’ Das alles kenne ich Takt für Takt, dem allen warte ich, СКАЧАТЬ