Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel
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Название: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman

Автор: Franz Werfel

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788726482362

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СКАЧАТЬ ein Tag wie jeder andere Tag . . .“

      „Verzeih, B.H.“, unterbrach ich ihn neuerdings, „könntest du vielleicht das Datum dieses alltäglichen Wochentags näher bestimmen?“

      „Wenn dir mit einem Datum gedient ist“, zuckte er die Achseln, „bitte schön. Es war ein überaus bewölkter Freitag. Und sonst, was jedes Kind seit undenklichen Zeiten weiß, war’s ein dreizehnter November . . .“

      „Daß es heutzutage noch einen bewölkten Alltag oder gar einen echten grauen Novemberdreizehnten geben könnte, das scheint mir sehr zweifelhaft“, sagte ich, indem ich die seltsam trockene Luft einschnupperte und zum nackten, unbeschützten Blau des Himmels aufblickte.

      „Das hast du ganz richtig erkannt, F.W.“, lobte mich mein Freund. „Wolken sind eine große Köstlichkeit, die wir astromentalen Menschen hoch verehren . . .“

      „Aber zu einem echten dreizehnten November gehört eine Großstadt“, schloß ich, nicht ohne Starrsinn.

      „Mein Gott, du stehst doch auf dem Boden einer Großstadt“, erklärte B.H., leise enerviert.

      „Ich nehme an“, mokierte ich mich, „daß deine Großstadt an jenem dreizehnten November sich anders präsentiert hat.“

      „Das ist doch selbstverständlich, F.W.“, wies der Wiedergeborene meinen leichten Spott zurück. „Natürlich hat sie anders ausgesehen und hat hundert Jahre vorher und hundert Jahre nachher wieder ganz anders ausgesehen. Der Weg ist lang, mein Lieber, den ich komme. Damals, am dreizehnten November, gab es entweder noch oder schon wieder Häuser über der Erde. Das Mentelobol freilich war noch nicht bekannt. Wir bewegten nicht das Ziel auf uns zu, sondern uns auf das Ziel zu, mit enormer und höchst ungesunder Geschwindigkeit. Du hättest deine Freude gehabt an jener Großstadt. Man trat durch die labyrinthischsten Passagen auf die Straße hinaus. Es gab noch den fröhlichsten Unterschied zwischen Trottoir und Fahrbahn. Es gab dichten Verkehr. Oben flogen die Gyroplane. Ihre Geschwindigkeit machte sie so unsichtbar, wie du es zum Beispiel jetzt bist, F.W. Unten stauten sich Frauen und Männer und Kinder vor den mächtigen Schaufenstern, hinter welchen Tag und Nacht die glänzendsten Revuen und Operetten von großen Künstlern aufgeführt wurden. Sogar an den lieben Milchmann erinnere ich mich noch, dessen Wägelchen mit den Schlittenschellen von einem Hund gezogen wurde. Jene Zeit war halt ziemlich zurückgeblieben.“

      „Und es regnete“, versuchte ich B.H. aufs Thema zurückzubringen.

      „Nein, es regnete nicht“, sagte er versonnen, „es nieselte nicht einmal, es war nur sehr dunkel. Nachher stellten die Journalisten eine Weltuntergangsstimmung fest, die vorher geherrscht habe. Ich und niemand von meinem Kreis hatte das geringste davon bemerkt. Freilich, das darf ich nicht vergessen: die furchtbare Aufregung der Vögel fiel selbst den naturblinden Großstädtern auf.“

      „Und wann begann das mit der Aufregung der Vögel?“

      „Es soll kurz nach Mitternacht begonnen haben. Durch einen seltenen Zufall verbrachte ich jene Nacht auf den dreizehnten zu Hause. Millionen von Vögeln fielen in die Großstadt ein, von der ich spreche. Bitte, frag nicht nach ihrem Namen. Ich weiß ihn absolut nicht mehr. Nach den Vögeln darfst du fragen, selbstverständlich. Alle Arten waren darunter, die es damals gab, große und kleine. Von Kondoren, Geiern, Habichten, Kormoranen herunter bis zu Schwalben, Meisen und Spatzen. Mehr Namen von Vögeln sind mir nicht mehr geläufig. Die flachen Dächer, Dachgärten, Schau- und Wohntürme, Balustraden, Antennen, Feinmetallgerüste zum Empfange kosmischer Wellen und Strahlen, die Anlagen der Fernsubstanzzerstörer, all das war schwarz, pechschwarz von großen und kleinen Vögeln, die dicht nebeneinander hockten und ein gewaltiges Klagegeschrei und Gezwitscher erhoben, das sich nicht beschreiben läßt. Es war ein einziger, scharfgezackter Wehelaut, der unter den tiefhängenden Wolken vibrierte . . .“

      „Und das nennst du einen ordinären Alltag“, schüttelte ich den Kopf.

      „Er war es“, nickte B.H., „ein ganz ordinärer Wochentag, ein Freitag, ein dreizehnter November wieder einmal. Die ersten Extrablätter berichteten die Sache mit den Vögeln bereits um zwei Uhr morgens ebenso wie die verschiedenen wellenversendenden Agenzien. Den Uranographen, den du vermutlich bald kennen lernen wirst, gab’s damals noch nicht. Wir durchliefen gerade eine stark rationalistische Epoche, und das Vertrauen in die Wissenschaft war unbedingter, als du es je erlebt hast, F.W. Die gelehrten Institute nahmen die Angelegenheit noch mitten in der Nacht in die Hand. Um vier Uhr früh war das Phänomen geprüft, analysiert und erklärt. Es hing zusammen mit irgendwelchen elektromagnetischen Unregelmäßigkeiten, die zum Entstehen ganzer Ketten von Kugelblitzen in den untern Schichten der Atmosphäre geführt hatten.“

      „Immer weniger Alltag, mein Bester“, fiel ich ein und spürte genau, wie ich mit den Schultern zuckte, obwohl sie unsichtbar waren.

      „Glaub mir, F.W., bis auf das Vogelgeschrei warʻs der banalste Freitag, den du dir denken kannst. Und wie lange braucht eine richtige Metropole, um über das extremste Geschrei zur Tagesordnung überzugehen? Zwei, drei Stunden. Um elf Uhr dreißig hatte sich die Welt bereits daran gewöhnt, und die Schlagzeilen der Mittagszeitungen beschäftigten sich wieder mit den Eheaffären eines weltberühmten Ventriloquisten . . .“

      „Und um elf Uhr fünfundfünfzig?“ fragte ich.

      „Da begann ich gerade mein Gesicht einzuseifen“, erwiderte B.H., voll Nachdenklichkeit. „Um diese Zeit erhob sich damals der arbeitende Kulturmensch. Dies ist nämlich eine meiner gesichertsten Erfahrungen im Laufe so mancher Wiedergeburten: Je fortgeschrittener die Menschheit, um so später steht sie auf.“

      „Und um zwölf Uhr zwanzig?“ fragte ich hartnäckig weiter.

      „Um zwölf Uhr vierundvierzig“, sagte er und machte eine längere Pause, ehe er fortfuhr, „um zwölf Uhr vierundvierzig verließ ich meinen komfortablen Lebensraum, um einer Einladung zum Frühstück Folge zu leisten. Es ist übrigens durchaus unwahr, daß wir damals, wie ein geschichtsschreibender Witzbold es formulierte, in überaus praktischen ,Wohnsärgenʻ lebten, die sich nach unserm Hinschied mechanisch verkapselten und selbsttätig in die Erde versenkten. All das ist Schwindel. Unsere Lebensräume waren wohl recht klein, aber angenehm wie ein elastischer Handschuh. Längst waren die Zeiten vorüber, wo der Mensch um seinen Platz an der Sonne, und noch mehr um seinen Platz im Schatten zu kämpfen hatte . . .“

      „Jetzt ist es mindestens zwölf Uhr fünfzig Minuten, B.H.“, drängte ich ungeduldig, denn ich fühlte, wie er mir auf Seitenwegen entwischen wollte. „Du bist aus deinem Lebensraum, aus deinem Haus getreten. Ich fürchte, du wirst zu spät zum Lunch kommen . . .“

      „Ich werde überhaupt nicht zu diesem Lunch kommen, F.W.“, lächelte er träumerisch. „Ich werde gerade noch unseren städtischen Park in der nächsten Nähe erreichen. Du weißt, daß ich immer die Fortbewegung per pedes apostolorum geschätzt habe. Meine Absicht war’s auch diesmal, zu den Freunden, die mich eingeladen hatten, ganz gemächlich hinzubummeln. Ich kam freilich nicht weit . . .“

      „Weil inzwischen das Ereignis eintrat?“ trieb ich ihn vorwärts. Er sah sonderbar verstört durch mich hindurch. Die Erinnerung schien ihn noch immer zu verwirren.

      „Wie kann man“, fragte er ins Leere, das ich war, „von etwas, was keine oder fast keine Zeit in Anspruch nimmt, leichtfertig sagen, es trete ein?“

      „Fast keine Zeit ist immerhin so gut wie jede andere Zeit“, erklärte ich. „Das Ereignis währte demnach den Bruchteil einer Sekunde, B.H.? Vielleicht kannst du diesen Bruchteil in Zahlen ausdrücken . . .“

      „Und СКАЧАТЬ