„Gar nicht sinnlich wahrgenommen werden“, wiederholte er beinahe höhnisch. „Ich sage dir, wir alle glaubten, das Ereignis habe Ewigkeiten gedauert. Während es stattfand, waren wir wie aus der Zeit geworfen. Hinter der schweren, dicken Wolkenwand des dreizehnten Novembers flammte plötzlich vom Aufgang zum Niedergang das Empyreum auf, der Feuerhimmel, von dem die Menschen einst geglaubt hatten, daß er hinter allen andern Himmeln liege. Wie soll ich dir das Ungeheuerliche schildern, es gab nichts mehr, keine Stadt, keine Häuser, keinen Park, keine Allee, keinen Baum, kein Ich, kein Du, es gab nur Licht, ein Licht aber, gegen das alles bekannte Licht die schmutzigste Dämmerung war . . .“
„Ich habe immer gefürchtet“, murmelte ich erschüttert, „die Sonne könne einmal eine Herzattacke oder einen Wahnsinnsanfall bekommen . . .“
„Nenn es, wie du willst“, sagte er. „An jenem Freitag, dem dreizehnten November, drohte die Sonne mit sich selbst durchzugehn. Man kennt das ja von anderen Lichtgestirnen, die urplötzlich explodieren, das heißt zur millionenfachen Größe ihrer selbst anwachsen. Ich weiß nicht, ob wir in unserer gemeinsamen Gymnasialzeit schon etwas von der Novabildung gelernt haben, oder ob das erst eine viel spätere Entdeckung war. Das Große aber an unserer Sonne ist, daß sie zugleich, als sie mit sich durchging, sich selbst beherrschte und sich selbst in der Gewalt behielt. So kam es nur zu dem großen Ereignis der ,Transparenzʻ und nicht zur Vernichtung. Das Ereignis überschritt die Grenze des Geistigen kaum. Und doch, wir haben den Jüngsten Tag erlebt . . .“
„Wie furchtbar muß es gewesen sein“, hörte ich mich murmeln, „wie furchtbar.“
„Furchtbar!“ rief er aus. „Es war herrlich, unausdrückbar herrlich! Wäre die Kürze des Augenblicks nur um eine fehlende Null länger gewesen, alles wäre vorbei für immer. Hätte irgendein Wesen auf Erden während der ,Transparenzʻ ein brennendes Streichholz in der Hand gehalten, die Atmosphäre hätte sich entzündet und wäre wie eine Flammenfahne in den Raum verpufft. Warum? Weil der Sauerstoff der Luft vor und nach der Transparenz einige Sekunden lang ums Dreifache vermehrt war. Aber es gab eben keine Streichhölzchen mehr auf Erden, kein offenes Feuer und nicht einmal Lavaströme. Da sind heute noch Gelehrte, die behaupten, die Vermehrung des Sauerstoffes in der Atmosphäre sei die Ursache der göttlichen Begeisterung, der unaussprechlichen Ekstase gewesen, die mich und alles andere, das lebte, in jenem Bruchteil von Zeit erfüllte . . .“
„Wie soll ich mir vorstellen“, wunderte ich mich, „daß in einem solchen Bruchteil von Zeit sich überhaupt eine Empfindung entwickeln kann, B.H.?“
„Du kannst dir diesen Bruchteil ähnlich vorstellen, F.W., wie etwa die Steigerung in einem niemals erdachten Symphoniesatz. Ach Gott, das alles ist ein Blödsinn, und du kannst dir gar nichts vorstellen. Versuche aber trotzdem dir vorzustellen, du hättest bisher nur als Figur auf einem Bilde gelebt, und plötzlich brichst du leibhaftig und dreidimensional aus der Leinwand. Stell dir vor, das, was du bisher für dein Leben genommen hast, sei nichts als ein Krampf, eine verkümmernde Kontraktur aller Muskeln, und mit einem Schlage bist du von diesem Krampf erlöst und in der richtigen Haltung. So ungefähr empfanden wir das Leben während der Transparenz . . . Oh, du hast viel verschlafen, F.W.“
„Ich habe mir nicht gewünscht, geweckt zu werden“, erwiderte ich ebenso unlogisch wie pikiert.
„Fühlst du dich wirklich so unwohl in deinem Mantel aus Durchsichtigkeit?“ fragte er, und ich merkte, daß ich ihn gekränkt hatte.
„Wenn ich deinen klaren Bericht überdenke, B.H.“, lenkte ich ein, „so hat es sich weniger um ein astronomisches Ereignis gehandelt, das unrettbar zum Untergang geführt hätte, als um ein unendlich kurzfristiges Schwanken in der Sonnennatur zwischen Dauer und Vernichtung, zwischen Fortstrahlen und Zusammenflammen, um einen Augenblick auf des Messers Schneide gleichsam, der sich in der Lichterscheinung ausdrückte, die du oder die Wissenschaft ,Transparenzʻ nennt. Ich verstehe die Begeisterung, die Ekstase des Jüngsten Tages und der Welterlösung, die diese Transparenz auslöste. Sonst aber scheint sie ergebnislos und ohne Folgen vorübergegangen zu sein . . .“
„Sie hatte Folgen“, fiel er mir ins Wort, „die Transparenz verlief nicht nur wie ein Schauspiel . . .“
„Aber keine physikalischen und chemischen Folgen.“, warf ich ein, „bis auf die augenblickliche Vermehrung des atmosphärischen Sauerstoffs . . .“
„Irrtum“, sagte B.H., „das Ereignis hatte eine Menge von physikalischen Folgen. Daß einige Millionen Menschen während der Transparenz starben, ist nicht so wichtig. Aber sieh nach oben, F.W., und du wirst die Folgen sehen, oder richtiger, nicht sehen . . .“
Ich blickte gehorsam zum strahlenden Himmel. Er kam mir viel leerer, viel stummer vor als zu meiner Lebenszeit. Plötzlich fühlte ich in mir einen kurzen, wunderlichen Schreck: „Wo sind die Vögel?“ fragte ich.
„Das Geschlecht der Vögel ist dahin seit dem dreizehnten November-Freitag“, entgegnete er, nicht ohne schleppende Feierlichkeit, und er fügte hinzu: „Ihre Angst und ihre Begeisterung war zu groß. Sie haben’s nicht überlebt.“
Nach diesen Worten sagte B.H. nichts mehr. Er ging auf die dunkle Baumgruppe zu, die einige Schritte von uns entfernt lag. Nach einem schnellen, mißtrauischen Blick zur hochstehenden Sonne empor folgte ich ihm.
Nun, da ich mich mit fliegender Feder der eigentlichen Reisebeschreibung der mentalen oder astromentalen Zeit und Welt zuwenden sollte, fühle ich mich aufgehalten und halte mit mir, was weit gefährlicher ist, den noch immer verdutzten und vielleicht schon erbosten Leser auf.
Ich erforsche mit möglichster Wahrheitstreue mein Gedächtnis und kann es doch nicht genau ermitteln, wieviel mir B.H. von den Voraussetzungen dieser Zeit und Welt verriet, ehe wir das Haus der Hochzeiter betraten. Jetzt, ich meine jetzt, während ich dies schreibe, da immerhin einige Nächte und Tage seit meiner Heimkehr vergangen sind, scheint es mir, als habe mein Freund sich dazu bewegen lassen, mir einige knappe Informationen zu erteilen, ehe er vor einer umwucherten Gartenpforte eine kurze Verbeugung vollführte und mit halblauter Stimme ins Leere rief: „Wir sind hier, wie verabredet“, worauf sich die Pforte öffnete.
Vielleicht aber irre ich mich, und der Wiedergeborene, der mir die „Transparenz“ oder „Sonnenkatastrophe“ so beredsam preisgegeben hatte, hielt mich kurz, ehe er mich seinen Freunden vorstellte. B.H. war durchaus nicht so dienstwillig zu mir wie, um einen überheblichen Vergleich zu wagen, Vergilius etwa zu Dante. Es herrschte zwischen uns beiden trotz aller Freundschaft eine Art von unterdrücktem Streit dann und wann. Wie jeder echte Cicerone wollte B.H. mich, den Touristen, stets überwältigt sehen und vor Erstaunen fassungslos. Ich aber, wie jeder Tourist, setzte diesem Bestreben meinerseits einen hartnäckigen Widerstand entgegen und zeigte mich lieber — oft gegen meinen eigenen Willen ― abgestumpft und blasiert. So geschah es, daß B.H. nicht selten gekränkt war und mir seine Belehrung vorenthielt. Gar mancher ungeahnter Tatsachen wurde ich ohne alle Erklärung inne, durch Penetration und Osmose, ich kann’s nicht besser ausdrücken. Schon dadurch, daß ich in ihr anwesend war, durchdrang mich die unbekannte Welt und Zeit mit einem unverhofft rasch wachsenden Verständnis für ihre Besonderheiten und unermeßlichen Verwandlungen. Nur so ist es erklärbar, daß ein, nach Stunden gemessen, sehr kurzer Aufenthalt mir genügte, um diesen ausführlichen Bericht hier erstatten zu dürfen, wobei ich teils aus Zweifel an der Zuverlässigkeit meines Gedächtnisses, teils aus Scheu, den Geist des Lesers mit allzuviel Neuem zu ermüden, nur eine Auswahl aus der Fülle des Gesehenen, Erfahrenen und Gewußten in möglichst chronologischer Folge aufs Papier werfe.
B.H. hatte es vorhin verstanden, jenes ungeheure Himmelsereignis der Transparenz mir so glorios СКАЧАТЬ